Herr der Krähen
Herrschers und der Tatsache, dass Nyawĩra immer noch frei herumlief, oder vor der Rückkehr des Herrschers mitsamt einem Kredit der Global Bank, was dazu führen würde, dass Machokali noch mehr Macht erhielt. Und ein mächtigerer Machokali bedeutete auch ein mächtigerer Tajirika. War sein Stern am Verblassen? Allerdings stand in der E-Mail nicht das genaue Datum der Rückkehr, noch, ob die Global Bank den Kredit bewilligt hatte. Doch war das lediglich ein weiterer Aufschub des Unvermeidlichen, denn die Hoffnung, Nyawĩra in der verbleibenden Zeit fassen zu können, hatte er aufgegeben.
Während er langsam in eine Depression sank, erhielt er einen dringenden Anruf von Kaniũrũ, der ihm die unglaubliche Neuigkeit verkündete, er hätte einen Weg gefunden, wie man Nyawĩra verhaften könne, wolle dies aber nicht am Telefon besprechen. Sikiokuu fühlte sich wie ein Ertrinkender, dem man einen Rettungsring zuwarf. Er erlaubte sich keine Verzögerung und schickte seinen Fahrer, um Kaniũrũ abzuholen und in sein Büro zu bringen.
5
Kaniũrũ war als Arbeiter verkleidet zum Schrein gegangen, in einem ölverschmierten blauen Overall und einer Baseballkappe mit dem verblassten Logo eines amerikanischen Unternehmens.
Er hatte seinen Mercedes einen Kilometer entfernt geparkt und war den Rest zu Fuß gegangen. Er hatte niemandem auch nur ein Wort von dem geplanten Besuch erzählt, und erst als er Santalucia erreicht hatte, erlaubte er sich, nach dem Weg zu fragen. Er hatte es so eingerichtet, dass er in den frühen Abendstunden bei Einbruch der Dunkelheit im Schrein ankam. Kein anderer Kunde wartete. Eine Frau nahm ihn schweigend in Empfang und führte ihn ins Wartezimmer. Ein paar Minuten später war die Frau zurück und brachte ihn – wieder ohne ein Wort – in das Beratungszimmer. Dort ließ sie ihn allein. Er war erleichtert, weil sie ihn nicht nach persönlichen Dingen gefragt hatte, und fühlte sich jetzt, da niemand seinen Namen kannte, in seiner Tarnung sicherer. Er wollte dem Herrn der Krähen einen falschen Namen nennen und sich eine Geschichte ausdenken.
Durch ein winziges Fenster in einer Wand erblickte Kaniũrũ den Herrn der Krähen, der einen kleinen Spiegel in der linken Hand hielt. Der Zauberer schien darin wie in einem Buch zu lesen und hob nicht einmal den Blick, als er jetzt zu dem Bittsteller sprach.
„Du wohnst in Eldares“, stellte der Herr der Krähen fest.
„Ja“, bestätigte John Kaniũrũ.
„Und du möchtest nicht, dass jemand erfährt, dass du meinen Schrein aufgesucht hast.“
„Ja. Das stimmt.“
„Nicht einmal deine Vorgesetzten wissen, dass du hier bist.“
„Richtig.“
„Haben deine Arbeit oder dein Name etwas mit Geruch zu tun?“
Diese Frage brachte Kaniũrũ aus der Fassung, und er zögerte einige Sekunden, bevor er antwortete. Sie kam seinem Namen so nahe, dass es keinen Sinn hatte zu leugnen. Dieser Spiegel besitzt erhebliche Kräfte, dachte er.
„Ja“, gab er schließlich zu.
„Man kann dich also den Riechenden nennen … nein, nein … besser den, der schnüffelt … Warum verschwimmt das Abbild deines Namens auf einmal? … Ah, da ist es wieder. Viel klarer. Hat etwas mit Nase zu tun. Oder mit Nasen, oder so ähnlich.“
Kaniũrũ fiel fast vom Stuhl. Der Herr der Krähen hatte ihn noch nicht ein einziges Mal angesehen. Er hatte die ganze Zeit in das Buch des Spiegels geschaut. Woher weiß er, dass mein Name vom Wort „Nase“ abgeleitet ist?, fragte er sich.
„Ja“, antwortete Kaniũrũ mit leicht zitternder Stimme.
„Und jetzt zu deinem Beruf! Du hast die Schatten von Menschen, Tieren, Pflanzen, Bächen und dem Busch eingefangen.“
„Wie?“, fragte Kaniũrũ, als wüsste er nicht, wovon der Herr der Krähen redete.
„Auf Papier oder in Stein, oder so ähnlich?“
„Ja. Natürlich“, stimmte Kaniũrũ eilig zu.
„Jetzt aber beschattest du Leute, statt ihre Schatten einzufangen.“
„Was?“
„Du weißt, der Herr trug den Fischern auf, von ihren Netzen zu lassen und ihm zu folgen; er wollte sie zu Menschenfischern machen. Auch du musst den Ruf deines Herrn und Meisters vernommen haben, vom Abbild der Dinge zu lassen und sich ihm anzuschließen, damit du ein Fischer von Männern und Frauen werden kannst.“
„Ja, so in etwa“, gab Kaniũrũ zaghaft zu.
„Die Schrift im Spiegel ist verblichen“, fuhr der Herr der Krähen fort, als er nun den Kopf hob und Kaniũrũ ansah. „Ich bin jetzt bereit, mir deine Geschichte anzuhören.
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