Herr der Krähen
sagte: „Bitte denk nicht, dass ich geschwiegen habe, weil ich wütend auf dich bin. Ich bin dir dankbar für das, was du getan hast: dich in Gefahr zu bringen, um mich zu warnen. Ich bin gerührt, dass du deinen Verdacht für dich behalten hast. Und mach dir wegen der Ereignisse letzte Nacht am Red River nicht allzu viele Gedanken. Ich kann auf mich aufpassen, aber dein Angebot, mir zu helfen, werde ich mir merken. Lass uns einen Code vereinbaren.“
Sie diskutierten welchen Namen sie benutzen könnten, um miteinander in Verbindung zu treten, wenn es nötig war. Vinjinia war nicht mehr länger die passive Empfängerin von Vorstellungen anderer, sie nahm aktiv teil.
„Nehmen wir den Namen Taube“, schlug Vinjinia schließlich vor.
„Das ist gut“, stimmte Nyawĩra zu. „Die Taube ist die Überbringerin von Frieden und Erlösung.“
„Ich muss dich etwas fragen“, fühlte sich Vinjinia ermutigt. „Und es ist auch nicht schlimm, wenn du mir nicht antworten willst.“
„Nur zu.“
„Der andere Herr der Krähen. Ist er noch im Gefängnis?“
„Nein. Er war im Gefängnis, als Tajirika im Gefängnis war. Nun ist er in Amerika.“
Vinjinia blieb vor Unglauben und Verwunderung für einen Moment der Mund offen stehen.
„In Amerika?“
„Der Herrscher ist krank geworden. Er hat nach dem Herrn der Krähen geschickt.“
17
Es war der ungläubige Blick von Vinjinia, der einen Verdacht in ihr erneuerte, den sie schon immer gehabt hatte: War diese Erkrankung eine Falle, um den Herrn der Krähen zu ergreifen? Während Nyawĩra unschlüssig am Tor stand und zusah, wie ihre Freundin in der Ferne verschwand, kam ihr ein Lied in den Sinn, das die Mädchen früher im Dorf gesungen hatten, ein stilles Schlaflied. Sie ging in den Schrein und holte die Gitarre hervor. Sie setzte sich auf die Veranda, und jetzt reagierten die Saiten wie durch ein Wunder auf die Berührung ihrer Finger. Sie spielte und summte die Melodie vor sich hin, den Blick in die Ferne gerichtet.
Du hast geschworen, niemals zu gehen
und jetzt bist du fort
lässt mich hier allein
Und ich flehe dich an
zu bleiben noch eine Nacht
Sie dachte an ihn, den Herrn der Krähen, der in Amerika war, in der Gewalt des Diktators. Und sie war nicht mehr sicher, ob sie ihn jemals wiedersehen würde.
V I E R T E S B U C H
Männliche
Dämonen
E R S T E R T E I L
1
Über die Krankheit des Herrschers existiert ein Bericht innerhalb eines Aufsatzes des angesehenen Harvard-Professors Din Furyk. Der Professor hatte gehofft, ihn auf der Jahrestagung der Euro-American Medical Association vortragen zu können und termingerecht eine Kurzfassung eingereicht, doch die Beschreibung der Krankheit klang derart unglaubwürdig, dass man es ihm verwehrte, den Vortrag zu halten. Der Professor gab jedoch nicht auf. Er schickte seinen Aufsatz an Nature & Nurture, eine berühmte englische Fachzeitschrift, aber die Herausgeber, die zunächst durchaus Interesse bekundet hatten, änderten nach der Lektüre ihre Meinung. Sie sagten, eine Veröffentlichung des Aufsatzes könne die Beziehungen zwischen England und Aburĩria in Wissenschaft und Technologie belasten, weil es bei der Krankheit um das Staatsoberhaupt eines befreundeten Landes ginge. Eine andere Fachzeitschrift schickte den Aufsatz zurück und empfahl dem Verfasser stattdessen einen anrüchigen Science-Fiction-Verleger!
Eine Kopie des Tagebuchs des Professors, in dem er beschreibt, wie es zu diesem Aufsatz kam, gelangte in meine Hände und ich werde es hin und wieder heranziehen, um meine anderen Quellen zu ergänzen.
2
Es schien, als hätte sich der Körper des Herrschers wie ein Ballon aufgebläht, sein Körper wurde immer aufgedunsener, ohne dass sich die Proportionen der einzelnen Körperteile veränderten.
Dr. Wilfred Kaboca, der ihn als Erster untersuchte, rief sofort nach Machokali als Zeugen für seine Behandlung des Kranken. Machokali seinerseits rief alle anderen Minister einschließlich der Sicherheitsleute herbei, die entgeistert vor diesem unheimlichen Anblick standen. Der Herrscher stand offenbar nicht nur kurz vor dem Platzen, sondern er hatte auch die Fähigkeit zu sprechen verloren.
Die Minister zogen sich zur Beratung zurück, um zu überlegen, wie mit der Krankheit des Herrschers und den zahllosen Problemen, die sie hervorrief, umzugehen war. Wo sollten sie ihn unterbringen?
3
Es wurde entschieden, er solle auf dem Fußboden sitzen und
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