Herr der Krähen
Ambitionen eingefangen haben könnten. Wenn er jetzt handelte, würde niemand genau erfahren, wann, wo und wie den Herrn der Krähen das Schicksal ereilt hatte, denn außer Vinjinia gab es keine glaubwürdige Person, die wusste, dass der Herr der Krähen offenbar in seinen Schrein zurückgekehrt war.
Oder sollte er besser eine Allianz mit dem Zauberer schmieden? Eine Schattenarmee, die Sikiokuu treu ergeben war? Aber das hieße, einem Hexenmeister, dem man nicht trauen konnte, zu viel Macht zu übertragen. Nein, Sikiokuu würde ihn heimlich verhaften und in sein Büro bringen lassen, wo er ihn mit List und Drohungen dazu zwingen würde, Nyawĩra herbeizuschaffen. Dann würde er ihn den hungrigen Krokodilen im Red River zum Fraß vorwerfen. Statt seine treuen Leutnants Kahiga und Njoya die Schmutzarbeit erledigen zu lassen, die beide Angst vor dem Herrn der Krähen hatten, würde Sikiokuu dieses Mal Freiwillige rekrutieren. Kaniũrũs Jugendbrigaden kamen ihm da gerade recht.
Er griff wieder zum Hörer, rief Kaniũrũ an und ließ es so aussehen, als nähme er ein zuvor unterbrochenes Gespräch wieder auf.
„Wir wurden unterbrochen, bevor ich alles gesagt hatte“, begann Sikiokuu. „Du weißt ja, wie das mit unseren Telefonleitungen ist. Ich hoffe auf den Tag, an dem unsere Telefone so reibungslos und effizient arbeiten wie in Japan oder Amerika. Was hatte ich noch gesagt, bevor die Verbindung abgeschnitten wurde? Dass der Herr der Krähen nicht im Lande war oder ist. Ich habe aber noch einmal intensiv darüber nachgedacht, was du gesagt hast, und ich denke Folgendes: Nehmen wir um der Sache willen einmal an, Vinjinia sagt die Wahrheit und hat den Herrn der Krähen tatsächlich gesehen und mit ihm gesprochen. Dann ruf eine Truppe aus treuen und vertrauenswürdigen jungen Leuten zusammen. Holt mir diesen Herrn der Krähen. Bringt ihn mir lebend. Alle anderen im Schrein, Angestellte oder Klienten, bringt ihr zum Red River. Die Krokodile sind krank vor Hunger.“
Kaniũrũ gefiel der Gedanke überhaupt nicht, als Anführer einer Truppe von Rowdies den Schrein zu überfallen. Deshalb hatte er um eine Polizeieinheit gebeten, der er Befehle erteilen konnte, während er selbst im Hintergrund blieb, oder, was noch besser war, die es ihm erlaubte, sich ganz vom Ort des Geschehens fernzuhalten und so dem Bannfluch des Hexenmeisters zu entgehen.
„Warum kann nicht … die Polizei … Warum geben Sie mir nicht eine Polizeieinheit mit Jagdgewehren – Sie wissen schon, solche, die sogar einen Elefanten in Fetzen reißen können?“
„Begreifst du das nicht? Wir wollen nicht der ganzen Welt verkünden, was wir tun; die Regierung hat damit nicht das Geringste zu tun. Das ist alles inoffiziell. Also, ruf deine Jugendtruppe zusammen. Ich bin sicher, einige von ihnen sind auch bewaffnet. Aber dass dir eins klar ist: Ich will den Herrn der Krähen lebend!“
Sikiokuu erwartete sich eine Menge von dieser letzten Begegnung mit dem Herrn der Krähen: den Ort von Nyawĩras Versteck, einen vollständigen Bericht über die Krankheit des Herrschers und möglicherweise ein Bündnis. Andererseits lagen ein paar Fragen in der Luft: Wann und wie war der Herr der Krähen aus Amerika entkommen? Und warum? Oder war er in New York getötet worden und jetzt Gegenstand einer Vertuschung?
16
Nicht ein Tag verging, an dem Nyawĩra Kamĩtĩ nicht vermisste. Als sie an diesem Morgen erwachte, sehnte sie sich so sehr nach ihm, dass sie sich, um ihren Verlustschmerz zu lindern, die traditionelle Kleidung anzog, die sie an dem Abend getragen hatte, an dem sie nach ihrem Aufenthalt in den Bergen nach Eldares zurückgekehrt waren. Sie dachte unentwegt an diese Rückkehr, um ein bisschen Frieden zu finden. Sie griff zur Gitarre und spielte ein wenig. Die Kombination aus Tradition und der Gitarre als modernem Instrument weckte ihre Phantasie, und als sie das Instrument wieder an die Wand hängte, fühlte sie sich etwas besser.
Am Vormittag sah Nyawĩra eine ebenfalls traditionell gekleidete Frau durch das Tor kommen. Was für ein Zufall, dachte sie. Warum glauben so viele Leute, sie müssten für ihre Besuche im Schrein traditionelle Gewänder tragen?
Nyawĩra erkannte Vinjinia! Was führte sie her?, fragte sie sich. Hat ihr Mann sie wieder verprügelt? Und warum ist sie so gekleidet? Sonst trug sie immer ein einfaches Kleid mit einem kanga und einem Schultertuch.
„Was wünschst du dem Herrn der Krähen heute zu sagen?“, fragte
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