Herr der Krähen
den Gräsern begann zu trocknen. Kamĩtĩ starrte auf zwei Grashüpfer hinunter; für einige Sekunden nahm ihn ihr Spiel vollständig gefangen. Von fern war das Schreien zweier Esel zu hören, als lägen sie im Wettstreit miteinander. Kamĩtĩ wandte den Blick nicht vom Tanz der Grashüpfer, selbst dann nicht, als er Wariara singen hörte, was sich später als Abschiedslied herausstellen sollte:
Glücklich waren die
Die das Fischen ließen
Und Menschen fischten
Das Lied klang aber nicht fröhlich – es hörte sich traurig an – so, wie es gesungen wurde. Dieser traurige Ton hing noch in der Luft, als das Lied längst verklungen war, und trieb Kamĩtĩ Tränen in die Augen. Er hob den Kopf und wollte ihr sagen, dass er sie liebe und dass er ihr nicht böse sein könne oder sich anmaße, ihre Handlungen zu beurteilen, aber Wariara war bereits fort. Bitte geh nicht, wollte er sagen, aber er konnte sie nicht zurückrufen. Er war leer, ohne Hoffnung, dass die Dinge sich morgen zum Besseren wenden könnten. Also blieb er unter dem Baum sitzen, dessen Schatten und Tau sie geteilt hatten, und blickte ihr nach, wie sie den Hügel hinabstieg, bis sie eins mit der Landschaft geworden war und er sie nicht mehr ausmachen konnte. Sie sah kein einziges Mal zurück. Jetzt ließ Kamĩtĩ den Tränen freien Lauf und bemühte sich nicht, sie wegzuwischen.
Er beschloss, nicht in die Stadt zu fahren. Doch was sollte er mit seiner Zeit anfangen? Eigentlich trank Kamĩtĩ nie. Nun aber leerte er seine Hosentaschen und fand genug Geld, um der nächstgelegenen Kneipe einen Besuch abstatten zu können. Statt durch die Straßen der Stadt zu streifen, wollte er drinnen bleiben, eine einsame, reglose Gestalt am Tresen. Vielleicht würde er sich besser fühlen, wenn er zwei oder drei Bier hinuntergestürzt hatte, und selbst wenn ihm das nicht gelänge, würde er wenigstens vergessen, welche Wendung sein Leben soeben genommen hatte. Er schloss die Augen und schüttete die erste Flasche in sich hinein. Die zweite folgte, wie auch eine dritte. Er hörte auf zu zählen und wusste nicht, wie viele es am Ende waren. So verbrachte er ungefähr eine Woche. Es war, als wollte er nie mehr in die Wirklichkeit zurückkehren. Da er jedoch nicht viel Geld besaß, verlegte er sich auf billigstes Gebräu. Eines Nachts trank er so viel, dass er nicht mehr sagen konnte, wie und wann er aus der Kneipe in den Hinterhof gestolpert und benebelt von der Wärme seiner eigenen Kotze eingeschlafen war. Als er am Morgen erwachte und sich in seinem Erbrochenen liegen sah, begriff er, dass der Alkohol nicht das richtige Heilmittel für seine Probleme war, weder für die körperlichen noch die seelischen. Wie war es möglich, dass er der Versuchung überhaupt erlegen war, fragte er sich oft und fürchtete sich vor seiner Schwäche. Von da an mied er Kneipen wie die Pest.
In Kĩambugi begegnete Kamĩtĩ Wariara nie wieder. Er blieb zwar im Dorf, doch ohne Wariara war das Leben nicht mehr dasselbe. Obwohl ihre wechselseitigen Berichte über die Begebenheiten in der Stadt in den letzten Tagen ihrer Freundschaft immer seltener geworden waren, vermisste er ihre gelegentlichen Erzählungen über die tägliche Jagd nach einer Arbeitsstelle. Und im Dorf zu leben, wo alles, selbst die morgendliche Fahrt mit dem matatu , an sie erinnerte, wurde zunehmend schwieriger und sinnloser. Gleichzeitig befürchtete er, dass alle seinen Alkoholexzess mitbekommen hatten. Er beschloss, ebenfalls nach Eldares zu ziehen, weil ein Fischer, so redete er sich ein, sein Netz auch nicht immer an derselben Stelle auswirft oder ein Bauer sein Korn nicht immer in dasselbe Loch sät.
In Eldares suchte er weiter sein Glück, ohne es zu finden und ohne jemals Licht am Ende des Tunnels seines Lebens zu sehen. In den ersten Monaten dachte Kamĩtĩ oft an Wariara, fragte sich, wo sie steckte, wie es ihr ging, wie sie zurechtkam oder ob sie überhaupt noch lebte. Im Laufe der Monate aber verwischten die Alltagsprobleme in seinem Gedächtnis jedes Bild von ihr. Er hatte genug eigene Probleme und es war völlig unnötig, ihnen noch weitere hinzuzufügen, indem er sich die Sorgen anderer auflud.
Ja, es gab zahllose Enttäuschungen während seiner dreijährigen Arbeitssuche. Einige hatten ihm fast das Herz gebrochen, aber keine hatte ihn so tief gedemütigt wie dieses vorgetäuschte Vorstellungsgespräch. Ob es daran lag, was ihm im Verlauf des Tages widerfahren war? Wäre er jemand, der an Hexerei, Flüche
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