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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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als zum ersten Mal die Pläne für Marching to Heaven verkündet wurden?“, fragte Nyawĩra.
    Kamĩtĩ dachte zunächst daran, ihr von seinem seltsamen Geruchssinn zu erzählen, dass er keine Menschenmengen mochte, in denen massenweise stinkende Gerüche seine Nase attackierten. Aber er verkniff es sich, über seine sonderbare Empfindlichkeit zu sprechen. Er hatte die Feierlichkeiten auch deshalb nicht besucht, weil er in die Wälder gezogen war, um Wildbeeren zu pflücken.
    „Ich war nicht dort, aber ich habe Gerüchte darüber gehört“, antwortete er.
    „Über Marching to Heaven? Oder über die Schlangen?“ Noch während sie diese Frage stellte, schaute sie auf die Uhr und sprang auf. Sie bemerkte nicht, wie Kamĩtĩ zusammengezuckt war, als sie die Schlangen erwähnt hatte. „Es wird spät. Ich muss mich auf den Weg machen“, sagte sie.
    „Wo wohnen Sie denn?“, fragte Kamĩtĩ.
    Nyawĩra schwieg einen Augenblick und dachte über die Frage und die zu erwartende Antwort nach.
    „In Santalucia, zwei Zimmer mit Küche. Und Sie?“
    „Bahati“, antwortete er knapp.
    Obwohl es beiden offensichtlich widerstrebte, mehr von sich preiszugeben, wollten sie aber die Gesellschaft des anderen doch nicht aufgeben.
    „Ich muss zu Hause sein, bevor es dunkel ist“, wiederholte Nyawĩra. „Sie wissen ja nun, wo ich arbeite. Kommen Sie doch einfach mal zum Mittagessen vorbei, wenn Sie Zeit haben. Ich kenne hier in der Gegend ein paar nette Fish-and-Chips-Läden“, sagte sie lächelnd und ging.
    Kamĩtĩ sah ihr nach, bis er sie in der Menge verlor.
    Ihre Gesellschaft und die Unterhaltung hatten ihn von seinen Problemen abgelenkt, die jetzt aber erbarmungslos zurückkehrten. Sein Selbstmitleid, dem er sich hingab, grenzte an Selbstverachtung. Warum habe ich sie, was Bahati anging, angelogen? Hätte ich ihr doch einfach gesagt, dass ich für die Nacht kein Dach über dem Kopf habe. Ich hätte sie bitten sollen, mich bei sich aufzunehmen. Oder mich heute Abend zum Essen einzuladen, statt zum Mittagessen in ferner Zukunft.
    Er stand auf und ging in Richtung Stadtzentrum. Die meisten Läden waren bereits geschlossen und verriegelt. Bewaffnete Wachleute traten ihre Nachtschicht an. Ihm war, als befände sich die Stadt im Krieg. Seine Eltern hatten noch erzählt, dass sie früher in den Dörfern und auf dem Land nicht einmal daran gedacht hatten, die Türen abzuschließen. Man machte die Türen nur zu, damit keine streunenden Tiere hereinkamen.
    Er sprang zur Seite, um nicht mit zwei Männern zusammenzustoßen, die leere mkokoteni vor sich her schoben und zum Santamaria Market eilten.
    Bald erreichte er den Markt, auf dem Handkarren und Eselsfuhrwerke mit einem bunten Durcheinander von Rikschas, die von Fahrrädern, Motorrollern und Maultieren gezogen wurden, um Kundschaft wetteiferten. Die Szenerie erinnerte ihn an eine Straße in Old Delhi, auf der sich Ochsenwagen mit Dreirädern, Kühen, altersschwachen Autos und natürlich den neuesten Modellen um die Vorfahrt gestritten hatten. Er dachte, warum besorge ich mir nicht auch so einen Karren und transportiere Lasten gegen Bezahlung wie all die anderen? Aber selbst ein mkokoteni kostet Geld. Abgesehen davon, dass ein solches Geschäft, anders als das Wühlen im Müll oder das Betteln, nicht heimlich betrieben werden konnte; es war peinlich für einen Master of Business Administration, ein mkokoteni durch die Gegend zu ziehen und schreiend um Kunden zu werben.
    Peinlich? Nein, es wäre erniedrigend …
    Die Demütigung, die er bei Eldares Modern Construction and Real Estate erfahren hatte, traf ihn erneut mit solcher Wucht, dass ihm sekundenlang schwindlig wurde. Er musste sich an die Wand des nächsten Gebäudes lehnen, um nicht umzufallen. Sein Herzschlag wurde zu einem Paukenschlag. Gedanken wirbelten durcheinander, von Ort zu Ort, von Bild zu Bild, stellten sich auf den Kopf und vermischten die unterschiedlichen Dinge miteinander, die ihm in den letzten Tagen widerfahren waren. Er hatte versucht, diese Erinnerungen zu unterdrücken, konnte aber nicht verhindern, dass sie wieder hochkamen. Sein Denken wurde von Ereignissen überflutet, unbedeutenden und wichtigen, aus der jüngsten und der länger zurückliegenden Vergangenheit, und er musste ihnen nachgeben.
    Wie zum Beispiel der Sache mit Margaret Wariara.

4
    Kamĩtĩ lernte Wariara kurz nach seiner Rückkehr aus Indien in einem Bus kennen. Sie unterhielten sich, sie fühlten sich zueinander hingezogen, sie wurden

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