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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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Freunde. Nachdem sich herausstellte, dass sie aus demselben Dorf, aus Kĩambugi, kamen, nur wenige Kilometer von Eldares entfernt, und dieselbe Grundschule besucht hatten, wurde ihre Freundschaft enger. Damals waren sie sich nicht begegnet, weil Wariara in die erste Klasse kam, als er die letzte besuchte und kurz vor seinem Wechsel an eine weiterführende Schule stand. Danach war er nach Indien gegangen. Nach Beendigung ihrer Grundschulzeit absolvierte Wariara die Harambĩ Community High School und machte dort ihren Abschluss.
    Jahre danach hatte sie trotz des High-School-Abschlusses und einer anschließenden Lehre als Sekretärin – Schreibmaschine-, Stenographie- und Computerkenntnisse – noch immer keine Arbeit gefunden. Auch als sie sich kennenlernten, war Wariara auf Jobsuche. Kamĩtĩ, der gerade zurückgekehrt war, sprühte vor Hoffnung und meinte, sie solle sich keine Sorgen machen, er glaube, mit seinen beiden Universitätsdiplomen ganz schnell Arbeit zu finden. Dann würden er und Wariara heiraten und eine Familie gründen, und auch wenn das vielleicht nicht gut ginge, wolle er ihr auf alle Fälle dabei helfen, ihr eigenes Leben aufzubauen. Doch nichts davon wurde Wirklichkeit, und beide fanden sich auf der Straße wieder. Obwohl jeder seine eigenen Wege ging, nahmen sie morgens oft dasselbe matatu von Kĩambugi nach Eldares. Abends kehrten sie auf getrennten Wegen heim, weil es unmöglich war vorherzusagen, wie sich ihre Suche zeitlich gestaltete. Später trafen sie sich, um ihre Erfahrungen auszutauschen, und es war immer dieselbe Geschichte: Keine freien Stellen. Anfangs trafen sie sich jeden Abend, um die Gesellschaft des anderen zu genießen und sich die Erlebnisse des Tages mitzuteilen, häufig sprachen sie von ihren Begegnungen in der Stadt. Sie brachen dabei oft in übermütiges Gelächter über die Verwicklungen bei der Suche aus, als wäre die Jagd nach Arbeit im Dschungel der Stadt ein Abenteuer. Doch als die Tage und Monate vergingen und sich am Ausgang ihrer Geschichten nichts änderte, wurde es ihnen peinlich und sie hatten das Gefühl, an ihrem Versagen selbst schuld zu sein. Sie trafen sich immer seltener. Sie konnten es sich nicht erklären, doch die Misserfolge belasteten ihre Beziehung und trieben sie auseinander. Gefangen in Schuldgefühl und Sorgen wollten sie dieselben Schmerzen nicht drei Mal durchleben: ein Mal beim direkten Erleben, das zweite Mal beim Erzählen und das dritte Mal, indem sie sich den Kummer des anderen aufluden, der mit dem eigenen identisch war.
    Eines Morgens, als die Sonne aufging, sagte Wariara zu ihm: „Hör zu, zwei Blinde können sich nicht gegenseitig den Weg zeigen. Geh du deinen Weg, und ich geh meinen. Keiner soll versuchen herauszufinden, welchen Weg der andere nimmt. Ich werde dahin gehen, wohin mich das Schicksal treibt.“
    Sie saßen unter einem Baum auf einem Hügel, von dem aus man über das Dorf Kĩambugi schauen konnte. Sie saßen dort wie Mann und Frau, die sich im Schatten eines Baumes umwarben, während unten im Dorf die Hähne krähten und Hunde bellten. Es war ihr Wunsch gewesen, sich vor Tagesanbruch zu treffen und zu reden, damit ihnen noch genug Zeit blieb, den frühen Bus in die Stadt zu nehmen. Es war auch ihr Wunsch gewesen, dass sie es im Tau des Morgens taten. Im ersten Augenblick war Kamĩtĩ darüber bestürzt, weil sie das Liebesspiel bis dahin vermieden hatten, in der Hoffnung, es könnte für sie an dem herbeigesehnten Tag zu einem besonderen Geschenk werden, zu einer Art Initiation in ihr gemeinsames Leben und Besiegelung ihres Bundes. Er fühlte sich um einen Traum, eine Hoffnung, ein Versprechen betrogen. Dies umso mehr, als es gar nicht so wunderbar war und sich eher anfühlte, als wäre es ihnen aufgezwungen worden. Er kam sich vor, als hätte er Bodensatz getrunken, wo er kühles erfrischendes Wasser erwartet hatte. Deshalb überraschte es Kamĩtĩ nicht, als sie schließlich den Wunsch äußerte, sich von ihm zu trennen. Weil ihm die Worte fehlten, antwortete er nicht. Was sollte er auch sagen? Bleib noch ein wenig mit mir zusammen, ich werde eine Arbeit für dich finden und es wird sich alles zum Guten wenden? Er horchte in sein Herz und hatte das Gefühl, dass es ihm nicht zustand, über sie zu urteilen, im Guten oder Schlechten. So war die Welt nun mal, ihre Welt, und er hatte nicht mehr die Kraft, über ihre Worte nachzudenken und einen Ausweg vorzuschlagen. Die Sonne stand jetzt höher am Himmel, und der Tau auf

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