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Herr der Krähen

Herr der Krähen

Titel: Herr der Krähen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ngugi wa Thiong
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müssen.

5
    Als er sich am Straßenrand gegen die Wand drückte, spürte er, wie all seine Qualen zusammenflossen, und plötzlich trieb ihn ein intensiver Schmerz von der Wand weg und wieder auf die Straße zum Betteln. Der Anfang war immer am schwersten, doch Zaudern galt nicht. Der einzige Ort, den er meiden musste, war die Ruler’s Plaza, auf der er Wariara und ihren neuen Liebhaber gesehen hatte, ansonsten war es ihm gleichgültig, wo er begann.
    Er dachte nur noch an das, was getan werden musste, vergaß seinen Hunger, seinen Durst und die Müdigkeit. Entschlossen lief er los, achtete nicht auf seine Umgebung und blieb erst stehen, als er sich in der Nähe des Ruler’s Square befand. Hier konnte er ebenso gut anfangen wie irgendwo sonst, sagte er sich, und ging zu einer öffentlichen Toilette in der Nähe eines Sieben-Sterne-Hotels.
    Der Abfluss war verstopft. Alle Toiletten quollen über und sogar die Fußböden waren mit Scheiße bedeckt. Trotzdem sollte diese öffentliche Toilette sein Umkleideraum sein. In einer Ecke fand er eine Stelle, die relativ sauber war, und er fing an, sich zu verkleiden. Er öffnete seine Tasche, holte ein paar Lumpen hervor und zog sich schnell um. Mit einem Stift malte er sich Falten ins Gesicht und im Handumdrehen hatte er sich von einem respektabel aussehenden Arbeitssuchenden in einen erbärmlichen Almosenbettler verwandelt.
    Irgendwo erklangen die Glocken für das abendliche Angelus und wie durch Zufall begann auch der Muezzin, die Gläubigen zum Gebet zu rufen. Einen Augenblick lang war es, als befänden sich die beiden im Wettstreit miteinander, die Kirchenglocken, die das „Angelus Domini“ intonierten, und der Muezzin mit seinem Gebetsruf:

    Allahu akbar, Allahu akbar
    Asch-hadu al-lallaha il-Allah
    Asch-hadu anna Muhammadar-Rasulu-Allah
    Hayya ’alas-Salah
    Hayya ’alal-Falah …

    Ein gutes Omen, dachte er, vielleicht der Anfang von einer Kehrtwende des Schicksals.
    Gut, dass Beten und Betteln noch nicht zu Verbrechen gegen den Staat erklärt worden waren.

6
    Das Paradise, in dem Machokali den Empfang für die Delegation der Global Bank gab, war eines der größten Hotels am Ruler’s Square und berühmt für seine sieben Statuen des Herrschers, die – versunken in würdevollem Schweigen – von sieben Fontänen umringt waren, die aus den Mündern von sieben Cherubim hervorsprudelten und eine Art Wassertanz in Huldigung des Herrschers aufführten. Vier Statuen befanden sich an den Ecken des Platzes und zeigten den Herrscher in unterschiedlichen Posen zu Pferde, während die drei in der Platzmitte ihn auf einem Löwen, einem Leoparden und einem Tiger darstellten. Die Cherubim spien abwechselnd Wasser in die Luft, Tag und Nacht. In den Stunden von Dunst oder Dunkelheit strahlten Scheinwerfer die Skulpturen und Fontänen an.
    Die Herkunft der Gäste der einzelnen Sieben-Sterne-Hotels konnte man anhand ihrer Reaktion auf die Statuen und Springbrunnen leicht bestimmen: Ausländische Gäste blieben oft stehen, um einen Moment den Tanz der Fontänen zu bewundern und anschließend ihre Bemerkungen zu machen; einheimische Würdenträger hingegen marschierten wegen des vertrauten Anblicks einfach über den Platz, ohne das Schauspiel eines Blickes zu würdigen; es sei denn, sie waren in Begleitung von Ausländern, dann hielten sie kurz inne und erklärten, was in der Gestaltgebung der Statuen, der Anordnung der Springbrunnen und in der Choreographie der Wasserspiele in Aburĩria so einzigartig sei. Natürlich vergaßen sie nie, die Bedeutung der Zahl sieben zu erwähnen. Das ist die heilige Zahl des Herrschers, erklärten sie, als verrieten sie ein Geheimnis. Und die Raubkatzen?, mochte ein Besucher fragen. Das sind die Totems des Herrschers, verkündeten sie dann ehrfürchtig.
    Auch an diesem Abend war es nicht anders, als die Gäste zum Paradise strömten. Einige Ausländer blieben stehen und machten ein paar oberflächliche Bemerkungen, während die Mehrheit der Einheimischen direkt in die Empfangshalle marschierte, als fürchteten sie, etwas zu verpassen.
    Es ging das Gerücht um, dass die Mitglieder der Delegation eine Menge Bares mitgebracht hatten, das an die Armen verteilt werden sollte, denn schließlich hieß die Global Bank nicht umsonst so. Außer den geladenen Gästen, die in Mercedes-Limousinen samt Fahrer vorfuhren, und anderen, für die die Anwesenheit Pflicht war, hatten sich deshalb noch viele weitere Menschen versammelt. Barfüßig warteten sie voller

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