Herr der Träume
Anwaltskanzlei. Jill hatte ihn nicht einmal geöffnet, sondern nur gelächelt, dem alten Mann ein großzügiges Trinkgeld gegeben und den Brief in ihre Tasche gesteckt. Er würde eine vorsichtige Andeutung in bezug auf seinen Inhalt machen müssen. Seine Neugier war derartig geweckt, daß er sicher war, sie würde ihn aus Mitleid aufklären.
Aus dem Norden kam kalter Wind auf. Render zog die Schultern hoch, so daß sein Kopf hinter dem Kragen besseren Schutz fand. Er packte das Paket mit der Uhr fester und beschleunigte seine Schritte in Richtung Hotel.
Ihre Praxis war voll von Blumen, und sie liebte exotische Düfte. Manchmal zündete sie Räucherstäbchen an.
Sie liebte es, in sehr heißem Wasser zu baden, durch fallenden Schnee zu wandern, überlaute Musik zu hören und jeden Abend fünf oder sechs verschiedene Likörsorten zu trinken. Ihre Hände waren weich und wiesen ein paar Sommersprossen auf. Ihre Finger waren lang und spitz zulaufend. Sie trug keine Ringe.
Sie strich über die Armstützen ihres Sessels, während sie in das Aufnahmegerät sprach.
»... Bei seiner Aufnahme klagte der Patient hauptsächlich über Nervosität, Schlaflosigkeit, Magenschmerzen und eine Depressionsperiode. Der Patient war bereits früher für kürzere Zeiten in Behandlung. 1995 wurde er wegen einer manisch-depressiven Psychose vom depressiven Typ in diesem Spital aufgenommen, und er kam am 2. 3. 96 wieder hierher. Am 20. 9. 97 befand er sich in einem anderen Krankenhaus. Die körperliche Untersuchung ergab einen BP-Wert von 170/100. Er war normal entwickelt und gut ernährt, als er am 11. 12. 98 untersucht wurde. An diesem Tag klagte der Patient über chronische Rückenschmerzen, und man stellte leichte Symptome von Alkoholismus fest. Eine eingehendere Untersuchung ergab keine pathologischen Veränderungen, außer daß die Kniereflexe des Patienten übertrieben, jedoch gleichartig sind. Diese Symptome sind auf den Alkoholismus zurückzuführen. Bei seiner Aufnahme war er weder psychotisch und hatte auch keine Wahnvorstellungen. Er hatte eine gute Auffassung von Raum, Zeit und sich selbst. Man untersuchte seinen psychischen Zustand und fand, daß er etwas grandios und überschwenglich und ziemlich feindselig war. Man betrachtete ihn als potentiellen Unruhestifter. Wegen seiner Kochkenntnisse wies man ihm eine Arbeit in der Küche zu. Danach besserte sich sein Allgemeinzustand erheblich. Er ist weniger gespannt und mehr willig zur Zusammenarbeit. Diagnose: Manisch-depressive Reaktion, äußere Ursachen dafür unbekannt. Der Grad seiner Abweichung ist gering. Er wird als kompetent angesehen. Die Therapie und der Krankenhausaufenthalt werden fortgesetzt.«
Sie schaltete das Tonbandgerät ab und lachte. Das Geräusch erschreckte sie. Lachen ist ein soziales Phänomen, und sie war allein. Sie hörte sich die Aufnahme noch einmal an und kaute dabei an ihrem Taschentuch. Nach den ersten Sätzen hörte sie nicht länger zu.
Nachdem die Aufnahme zu Ende war, schaltete sie das Gerät ab. Sie war sehr allein. Sie war so allein, daß der kleine, helle Fleck, den sie vernahm, wenn sie sich über die Stirn strich und sich dem Fenster zuwandte, plötzlich das Wichtigste auf der ganzen Welt wurde. Sie wollte, es wäre ein Meer von Licht. Oder aber wollte sie so klein sein, daß es denselben Effekt hatte: Sie wollte darin ertrinken.
Gestern waren es drei Wochen gewesen ...
Es ist zu lange. Ich hätte warten sollen. Nein! Unmöglich! Aber wenn ihm etwas zustößt? Nein! Ihm konnte nichts zustoßen. Niemals. Er ist ganz Stärke und Rüstung. Aber wir hätten bis zum nächsten Monat mit der Behandlung warten sollen. Drei Wochen ... Beginnen die Erinnerungen bereits zu verblassen? Sind sie schwächer? Wie sieht ein Baum aus? Oder eine Wolke? Ich kann mich nicht erinnern! Was ist rot? Was ist grün? Gott! Es ist Hysterie! Ich weiß es, kann ihr aber nicht Einhalt gebieten! Eine Tablette!
Ihre Achseln begannen zu zucken. Sie nahm jedoch keine Tablette, sondern biß stärker in ihr Taschentuch.
»Hütet euch vor denen, die hungern und nach Gerechtigkeit dürsten«, zitierte sie eine Seligpreisung eigener Machart, »denn wir werden zufriedengestellt werden. Und hütet euch vor den Sanftmütigen«, fuhr sie fort, »denn wir werden versuchen, die Erde zu beherrschen. Und hütet euch ...«
Das Summen des Telefons unterbrach sie. Sie steckte das Taschentuch weg, sammelte sich und schaltete das Gerät ein.
»Hallo ...?«
»Eileen, ich bin
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