Herr der Träume
einen Zug. Sie nippte an dem ihren. Er wartete darauf, daß sie das Gespräch aufnehmen würde. Er erwartete noch mehr Fragen, ehe sie auf den Kern der Sache kommen würde.
Sie fragte: »Was ist das Schönste, das Sie je gesehen haben?«
Er hatte also richtig geraten, dachte er, und antwortete ohne zu zögern: »Der Untergang von Atlantis.«
»Ich habe es ernst gemeint.«
»Ich auch.«
»Würden Sie sich genauer ausdrücken?«
»Ich habe Atlantis versenkt – persönlich. Es war vor etwa drei Jahren, und bei Gott, es war wunderbar! Die Elfenbeintürme und goldenen Minarette und Silberbalkone, die Brücken aus Opal, die purpurnen Banner und die milchweißen Flüsse, die sich zwischen zitronenfarbenen Ufern hindurchwanden, die Türmchen aus Jade. Da gab es Bäume, so alt wie die Welt, die die Unterseite der Wolken kitzelten, und Schiffe im großen Hafen von Xanadu, die so sorgfältig konstruiert waren wie Musikinstrumente. Die zwölf Prinzen des Reiches hielten Hof im Kolosseum des Zodiakus mit den zwölf Säulen und lauschten im Licht der untergehenden Sonne einem griechischen Tenorsaxophonisten beim Spiel.
Der Grieche war natürlich einer meiner Patienten, ein Paranoiker. Die Sache war ziemlich kompliziert, aber das fand ich vor, als ich in seine Gedankenwelt eindrang. Eine Zeitlang ließ ich ihm freies Spiel, aber zuletzt war ich gezwungen, Atlantis zu zerstören und fünf Klafter tief zu versenken. Nun spielt er wieder, und Sie haben ihn zweifellos gehört, wenn Sie solche Musik mögen. Er spielt gut. Er sucht mich in größeren Abständen regelmäßig auf, ist jedoch nicht länger der letzte Abkömmling des größten Barden von Atlantis, sondern ein ausgezeichneter Saxophonist unserer Zeit.
Aber wenn ich manchmal an die Apokalypse zurückdenke, die ich über diese grandiose Vision gebracht habe, verspüre ich eine leise Wehmut über deren verlorene Schönheit. Denn einen kurzen Augenblick lang waren seine abnormal intensiven Gefühle auch meine Gefühle, und er hielt seinen Traum für das Schönste auf der Welt.«
Er füllte ihre Gläser von neuem.
»Das habe ich eigentlich nicht gemeint«, sagte sie.
»Ich weiß.«
»Ich meinte etwas Reales.«
»Ich kann Ihnen versichern, es war realer als die Wirklichkeit.«
»Das bezweifle ich nicht, aber ...«
»... aber ich habe die Grundlage für Ihre Argumente zerstört, mit denen Sie kommen wollten. Gut, ich entschuldige mich. Nun kommt etwas, das Realität sein könnte:
Wir befinden uns am Rand einer großen Sandmulde. Langsam sammelt sich der Schnee darin. Im Frühjahr wird der Schnee schmelzen, das Wasser wird in der Erde versickern oder in der Sonne verdunsten. Nur der Sand wird übrigbleiben. Nichts wächst im Sand außer einem Kaktus hier und dort. Nichts lebt hier außer Schlangen, ein paar Vögeln, Insekten und ein oder zwei Wüstenfüchsen. Am Nachmittag werden diese Tiere den Schatten suchen. Überall dort, wo sich ein alter Pfosten befindet oder ein Felsblock, ein Schädel oder ein Kaktus, wird man sehen können, wie das Leben sich vor den Elementen duckt. Aber die Farben sind unglaublich schön und die Elemente fast schöner als die Dinge, die sie zerstören.«
»Einen solchen Ort gibt es hier in der Nähe nicht«, sagte sie.
»Wenn ich es sage, dann gibt es ihn. Es gibt ihn nicht? Ich habe ihn gesehen.«
»Ja. Sie haben recht.«
»Und es spielt keine Rolle, ob es sich dabei um ein Gemälde handelt oder um eine Szene da draußen vor dem Fenster, oder? Wenn ich es gesehen habe?«
»Ich stimme mit Ihrer Diagnose überein«, sagte sie. »Wollen Sie sie aussprechen?«
»Nein, tun Sie es nur!« Er füllte wieder die ziemlich kleinen Gläser.
»Der Schaden liegt in meinen Augen und nicht in meinem Gehirn.«
Er gab ihr Feuer.
»Ich kann mit den Augen der anderen sehen, wenn ich in ihr Gehirn eindringe.«
Er zündete sich selbst eine Zigarette an.
»Neuropartizipation beruht auf der Tatsache, daß zwei Nervensysteme derselben Impulse, derselben Vorstellungen teilhaftig sein können ...«
» Gesteuerter Vorstellungen.«
»Ich könnte die Therapie durchführen und gleichzeitig echte visuelle Eindrücke wahrnehmen.«
»Nein«, widersprach Render.
»Sie wissen nicht, was es bedeutet, von einem ganzen Stimulanzbereich ausgeschlossen zu sein! Zu wissen, daß ein Kretin etwas wahrnimmt, was man nie selbst erleben kann – und daß er es nicht zu verarbeiten imstande ist, weil er, wie man selbst, vor der Geburt von einem biologischen Gericht des
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