Herr: Die Schattenherren 3 (German Edition)
verlassen. Wenn sie nachts den Kopf auf seine Brust legte, spürte sie die Muskeln. Seit der Schlacht um Guardaja, bei der er den rechten Arm verloren hatte, war er nicht mehr mit dem Schwert in den Kampf gezogen. In seinem Herzen war er dennoch stets ein Krieger der Mondschwerter geblieben. Einer, der kämpfte. Keiner von denen, die verwalteten und in den Amtsstuben Ilyjias das Wohlwollen der Mächtigen erwarben, indem sie Zahlen züchteten. Wärme füllte Nalajis Brust, als sie an die fünf Jahrzehnte ihrer Ehe dachte. Sie hatte Narron versorgt, als er von der Front gekommen war. Nicht nur die Wunde am Schultergelenk, wo der Arm abgetrennt worden war. Es war die innere Wunde gewesen, der verlorene Stolz, für die ihre Liebe die beste Medizin gewesen war. Viele Veteranen lebten in der Gosse, aber Narron hatte sein Schicksal angenommen und es mit dem Nalajis verbunden. Er war niemals zum Paladin geweiht worden, aber den Kampf gegen die Schatten führte er sein Leben lang. Dieser Krieg hatte sie hierhergebracht, nach Orgait. Und die Bücher, die sie aus den Tiefen des Archivs entwendet hatten, waren Waffen in diesem Kampf.
Nalaji fühlte ein Lächeln auf ihrem Gesicht, als sie sich wieder der Schrift zuwandte. Was sie tat, war gefährlich, aber sie tat es gemeinsam mit Narron, und sie wollte nirgendwo anders sein als an seiner Seite. Hätte ihr jemand die Möglichkeit geboten, den verschlungenen Pfad, den ihr Leben genommen hatte, zu ändern, so hätte sie darauf verzichtet, trotz all der Entbehrungen. Jetzt und hier war sie zusammen mit dem Mann, den sie liebte. Sie war glücklich. So glücklich, dass sie sich ab und zu bei jenem Wunsch ertappte, der einer Priesterin keinesfalls gut anstand: dass dieses Leben ewig andauern möge. Aber Unsterblichkeit war nur um den Preis des Fluchs zu haben, mit dem dieses Begehren von allen Göttern belegt worden war. Die Mondmutter war gütig, sie milderte die Last des Alters und heilte Krankheiten, aber sie war auch weise. Ewigkeit war den Menschen nicht zugedacht. Würden alle ewig leben, so hätten sich immer mehr Bewohner in den Städten gedrängt, bis die Häuser jeden Flecken Erde bedeckt hätten. Kein Platz wäre mehr gewesen für Äcker, Wälder, die weiten Ebenen und die raue Schönheit der Berge. Irgendwann wäre das letzte Tier erlegt, das letzte Korn gegessen gewesen. Die Menschen hätten untereinander Krieg führen müssen, schon um den bloßen Boden, auf den sie ihre Füße hätten stellen können. Wären also alle Menschen unsterblich gewesen, hätte das in großes Unglück geführt. Wenn Unsterblichkeit aber nur für einige gewesen wäre, so hätte niemand mit aufrechter Gesinnung ein Urteil darüber treffen wollen, wem sie zustand und wem sie verwehrt wurde.
Hier, in Ondrien, teilte man diese Bedenken nicht. Es lag an den Schattenherzögen, zu entscheiden, wer ein Osadro werden sollte. Die Erwählten wurden in die Finsternis geführt, und das in mehrfacher Hinsicht. Man erwartete, dass sie nach Vervollkommnung in der dunklen Kunst strebten, die ihre Existenz ermöglichte. Ihr Dasein fand nach ihrer Berufung nur noch im Dunkel statt, sie mieden das Licht der Sonne, das sie in Starre versetzte, und auch das der drei Monde, das ihre widernatürlichen Kräfte dämpfte. Vor allem aber fielen ihre Seelen in die Dunkelheit. Niemals wurde ein Rechtschaffener in die Schatten geholt, aber nach einigen Jahrzehnten des Unlebens waren alle Osadroi zu Taten bereit, die auch den hartgesottensten Söldnern den Schlaf geraubt hätten. Schon ihre Ernährung war Grausamkeit, bestand sie doch aus menschlicher Lebenskraft. Vielen schmeckte diejenige von Kindern besonders gut.
»Ich habe etwas!«, rief Narron und sah triumphierend auf die Zeilen, die er mit dem Zeigefinger markierte.
Nalaji ging um den Tisch herum und kuschelte sich an seine Seite. An die nordische Kleidung hatte sie sich schon lange gewöhnt. Hier in Orgait musste man Wolltuniken unter den Stoffbahnen, die sie als Ilyjier kenntlich machten, tragen. Sie hatten immer einen Geruch nach leichtem Stock, weil sie in der Kälte niemals vollständig trockneten.
»›… entriss Gerg den Regenpriestern in den dampfenden Dschungeln Anjatas das Wissen um den Fluss der Kräfte im Körper des Menschen‹«, las er vor, wobei er die Glaslinsen zwischen Brauen und Wangen einklemmte. Das schuf eine Grimasse, die Nalaji noch immer komisch fand, obwohl sie sie unzählige Male gesehen hatte. »›Dieses Wissen war der Schlüssel,
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