Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
irgendwie in der Luft. Esme bog links auf die Main Street. Die Oyster-Bay-Grundschule war nur ein paar Blocks entfernt. Bei wärmerem Wetter gingen sie zu Fuß, Mütter und ihre Kinder hintereinander auf dem Gehsteig wie bei einer Parade. Heute war der Gehsteig fast leer. Vom Meer blies ein schneidender Wind aufs Land. Irgendwie kämpfte er sich doch immer an den riesengroßen Villen, die den Strand säumten, vorbei.
Nicht dass Esme selbst in einer Bruchbude gelebt hätte. Jedenfalls nicht, seit sie Rafe kannte.
Sie hielt vor der Schule. Normalerweise musste sie mit den anderen Eltern um einen Parkplatz streiten, aber heute war sie zehn Minuten zu früh dran. Und das nur, um ihrem Computer aus dem Weg zu gehen und den Informationen, die er lieferte. Natürlich könnte sie ihr Radio auch einfach auf einen Nachrichtensender umstellen.
In diesem Moment entdeckte sie eine ihrer Nachbarinnen bei einer erstklassigen illegalen Handlung. Amy Lieb, die Bewohnerin einer der kleineren der riesengroßen Villen (und Mutter einer rehäugigen Tochter namens Felicity, die in Sophies Jahrgang war), hämmerte ein „KELLERMAN FOR PRESIDENT“-Schild in den Schulrasen. Entweder hatten die Sicherheitsleute keine Ahnung von den Vorschriften bezüglich Wahlpropaganda (unwahrscheinlich), oder es war ihnen egal (viel wahrscheinlicher). Das Geld der Liebs zählte mehr als irgendeine simple Vorschrift.
„Hey, Amy“, flötete Esme voll süßlicher Unschuld. „Was machst du da?“
Amy Lieb, munter wie immer, zwinkerte und winkte herüber. Esme und sie hatten eine freundliche Beziehung zueinander. Da beide Ehemänner in der Soziologiefakultät des Colleges waren, besuchten sie oft dieselben Buchvorstellungen oder trafen sich auf Abendveranstaltungen und so weiter. Alles in allem waren die Liebs wie sie und Rafe selbst mit fünfzehn Jahren Vorsprung. Ihre Tochter Felicity war das jüngste von vier Kindern. Der Älteste, Trevor, ging auf ein Internat in West-Connecticut, wo er sich vor allem in Mathematik und Tennis hervortat.
Amy Lieb hatte ihr langes schwarzes Haar mit einer weißen Schleife zusammengebunden, als ob sie ein Geschenk an die Welt wäre. Wegen der fließenden, weiten Kleidung, die sie immer trug, blieb ihre Figur ein Geheimnis, der heutige unechte Pelzmantel war da keine Ausnahme. Sie lächelte Esme und die Sonne an, als die jüngere Frau sich ihr näherte.
„Die Vorwahlen stehen an“, erklärte Amy. „Diese Nachricht muss doch verbreitet werden!“
Esme lächelte zurück. „Klar, aber wissen Sie, Siebenjährige dürfen nicht wählen.“
„Ihre Eltern schon!“
Esme sah sich um. Besagte Eltern hielten gerade mit ihren Kombis und Geländewagen vor der Schule. Sie beugte sich zu Amy und flüsterte so freundlich, wie sie nur konnte: „Hören Sie, Sie dürfen das Schild hier nicht aufstellen! Das ist ein städtisches Grundstück.“
Amy blinzelte sie an.
„Das nennt man Wahlwerbung. Ist rechtswidrig.“
Amy sah hinunter auf ihr Schild, das doch niemandem schadete, dann wieder zu Esme. „Wieso?“
„Weil man daraus schließen könnte, dass die Schule Gouverneur Kellerman unterstützt.“
„Nun, er ist der beste Mann für diesen Job. Meinen Sie nicht?“
Esme spürte, dass ihre freundliche Miene zu bröckeln begann. Wie es schien, waren Amys Überzeugungen ebenso fest verankert wie ihr Schild. Großartig.
„Entspannen Sie sich, Esme! Außerdem tut das doch niemandem weh.“ Die anderen Eltern scharten sich nach und nach zusammen. „Oh, wo wir schon davon sprechen, haben Sie gehört, was unten in Atlanta geschehen ist?“
An diesem Abend, nachdem sie Sophie ins Bett gebracht hatte und Rafe zu einem Vortrag eines Gastprofessors der Soziolinguistik gegangen war, rief Esme schließlich doch Tom Piper an. Sie rechnete nicht damit, dass er rangehen würde, und bereitete sich schon auf die Nachricht vor, die sie auf seiner Mailbox hinterlassen wollte. Doch dann …
„Hier spricht Tom.“
Esme hatte eine Tasse grünen Tee mit an ihren Computertisch gebracht. Obwohl sie sich Grußkarten schickten, hatten sie schon eine Weile nicht mehr miteinander gesprochen. Wie lange? Vier Jahre? Vier Jahre. Eine ganze Wahlperiode. Der Zwischenfall mit Amy Lieb war ihr noch frisch im Gedächtnis. Sie fühlte sich wie eine Schwimmerin, die nach langer Zeit wieder einmal ans Meer kommt. Nachdem sie fast ertrunken war. Gott, ob er noch immer sauer wegen ihrer Kündigung war? Vielleicht war es ein Fehler, ihn anzurufen
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