Herr, erbarme dich! - Corin, J: Herr, erbarme dich!
hatten. Die ihre Adressen gefälscht hatten, damit ihre Tochter die besten staatlichen Schulen besuchen konnte. Die sie jeden Tag gedrängt hatten, mehr aus ihrem Leben zu machen. Und dann, nachdem sie das Stipendium für die George-Washington-Universität bekommen und sich von ihnen verabschiedet hatte …
Im Süden Bostons hatte es ein Obdachlosenasyl gegeben, das Coleman House. Bleifarbe an den Wänden, aber das war im Dezember immer noch besser als gar keine Wände. Als die achtzehnjährige Esme nach ihrem ersten Semester voll mit Geschichten aus Washington zurückkehrte, gab es das Coleman House noch, ja. Doch ihre Eltern waren verschwunden. Alles, was sie ihr hinterlassen hatten, war ein gelber Zettel und die beiden mit Tinte geschriebenen Worte in der sorgfältigen Schreibschrift ihrer Mutter.
„SEI FREI“, stand da. „SEI FREI“.
Sie verbrachte die gesamten zwei Wochen damit, die Stadt nach ihrer Mom und ihrem Dad abzusuchen, aber sie wollten nicht gefunden werden. Und wenn man in den Nebenstraßen von Boston nicht gefunden werden wollte, hätte man sich genauso gut in Luft auflösen können.
Beinahe wäre sie nicht an die Uni zurückgekehrt, doch ihre Freunde drängten sie dazu. Sie sagten, dass ihre Eltern es so gewollt hätten. Immer in den Semesterferien kehrte sie nach Boston zurück, wohnte in der Jugendherberge in der Congress Avenue und suchte unter jeder Brücke und in jedem Obdachlosenheim der ganzen Stadt nach ihrer Familie. Bis zu dem Tag, als sie nach Quantico kam und beschloss, nie wieder zurückzukehren.
Rafe wusste nichts davon.
So ziemlich keiner ihrer Freunde wusste davon.
Tom wusste es nur, weil er eben alles wusste.
„Der Name des Mannes war Merle Inman“, ließ er sie jetzt wissen. „Er wurde in Macon geboren, zog mit Mitte zwanzig nach Atlanta, um Architekt zu werden, wurde drogenabhängig … Es ist doch immer dieselbe Geschichte. Er war zweiundvierzig. Wir werden diese Informationen zwar erst morgen herausgeben, aber gut, nun hast du sie schon jetzt.“
Esme merkte, dass sie weinte, und wischte sich über die Wangen. „Danke.“
„Der Typ, der das getan hat … also wirklich. Benutzt Menschen wie Tontauben. Er bildet sich ein, dass er schlauer ist als wir.“
„Schnapp dir den Dreckskerl!“
„Sehr wohl, Ma’am.“
Nachdem sie aufgelegt hatte, fiel ihr ein, dass sie immer noch nicht wusste, ob der Mörder eine Nachricht hinterlassen hatte oder nicht. Doch das erschien ihr jetzt nicht mehr wichtig. Vielleicht hatte sie es einfach nur gebraucht, mit Tom zu sprechen. Mentor, Profiler, Freund, Therapeut. Dass ihr nicht selbst aufgegangen war, welche spezielle Bedeutung der Fall für sie hatte – nun, die menschliche Seele blieb ein ewiges Rätsel.
Esme ließ sich ein Bad ein. Rafe würde frühestens in einer Stunde nach Hause kommen. Sophie schlief bereits tief und fest, vielleicht träumte sie wieder von dem Mann, der aus Ballons gemacht war. Das war seit ein paar Tagen ein immer wiederkehrender Traum. Der Mann aus Ballons. Alle in verschiedenen Farben. Und morgen früh würde sie am Frühstückstisch verkünden: „Ich habe wieder von dem Ballonmann geträumt.“ Offenbar handelte es sich um einen schönen Traum.
Ihre Tochter hatte schöne Träume. Esme glitt in das heiße, heiße Badewasser. Ihr Leben war gut, oder nicht? Wieder dachte sie an Amy Lieb. Solche Dinge waren nun die Dramen in ihrem Leben, während Hunderte Meilen entfernt Tom nach einem Wahnsinnigen suchte. Sie hoffte, dass er ihn schnappte. Sie hoffte, dass Rafe bald nach Hause kommen würde. Sie schaltete den CD-Player im Badezimmer an (Joy Division diesmal, „Love Will Tear Us Apart“), schloss die Augen und erlaubte ihren Gedanken, endlich, endlich tief auszuatmen.
3. KAPITEL
Am 11. Februar wurde im Amarillo-Aquarium ein Feuer gelegt.
In den Tagen nach dem Brand bestätigten die Filme in den Überwachungskameras den Verdacht der Polizei, dass es sich um Brandstiftung handelte. FBI-Ermittler schauten sich das Filmmaterial über einen neuen Nachtportier namens Emmett Poole Bild für Bild an, der im dritten Stock den Boden wischte, und zwar zwanzig Minuten, bevor in dieser Etage das Feuer ausbrach.
Es war Tom Piper, der dahinterkam.
„Das ist Feuerzeugbenzin.“ Er deutet auf den Wischeimer, dann auf den breiten Rücken von Emmett Poole. Das Gesicht des Portiers hatten sie nie zu sehen bekommen. Andere Angestellte beschrieben ihn als unauffällig. Er hatte erst vor einer Woche den Job
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