Herrentier
dem Aktenvernichter, um ihn umweltgerecht zu entsorgen.
Aus und vorbei
Als Evelyn an diesem sonnigen Herbstmorgen durch die Kröpeliner Straße ging, waren die meisten Läden noch geschlossen. Im Zentrum Rostocks herrschte dennoch rege Betriebsamkeit. Fahrzeuge hielten vor den Geschäften und lieferten Waren an. Vor den Bäckereien rasteten Touristenpärchen in leichter Jack-Wolfskin -Montur, mit hochgesteckten Fahrradbrillen und ausgefalteten Stadtplänen. Tauben stritten sich zwischen den Stühlen. Mit wackelnden Köpfen liefen sie unentwegt umher, versuchten sich heruntergefallenen Krumen zu nähern. Ab und an flatterte mal eine in die Höhe, aufgescheucht von Menschen, die sich noch einen Kaffee im Pappbecher kauften, ehe sie den nächsten im Büro aus der Tasse tranken.
Evelyn lenkte ihre Schritte zur Mitte des Universitätsplatzes, da sie eine lautstarke Gruppe Brötchen mampfender Bauarbeiter weiträumig überholen wollte, die allen Passantinnen schamlos hinterherstarrte. Seit die letzten Fäden aus ihrem Schädel gezogen worden waren, galt sie als physisch geheilt. Der nächste Kontrolltermin war in einem halben Jahr, ihre rasche Genesung verdankte sie eiserner Disziplin und einigen glücklichen Umständen.
Sie griff an den Rand ihrer übergroßen Sonnenbrille, ohne deren Sitz tatsächlich zu verändern. Eine Geste des Versteckens. Noch immer fiel es ihr schwer, allein auf die Straße zu gehen und sich den Blicken Fremder auszusetzen. Jedoch hatte sie sich arrangiert und »selbst kennengelernt«. Sie wusste, wann ein Tag gut werden würde und wann zum Alptraum, in welchem sie mit rasendem Puls vor die Tür treten musste. Dank ihrer vor kurzem begonnenen Mitgliedschaft im RoBB , dem Rostocker Bildung & Business Club , hatte sie schnell regelmäßige Termine bei anerkannten Medizinern bekommen. Evelyn durchquerte das Tor unter dem repräsentativen Barocksaal in Richtung Steintor-Vorstadt, einem Viertel mit Villen und Bürgerhäusern aus dem 19. Jahrhundert. Rechtsanwalt Jan Olaf von Steinhagen unterhielt seine Kanzlei in der Thomas-Mann-Straße. Er war eine sogenannte Gold-Robbe, einer der Gründer des Clubs. Obgleich sie sich beide wöchentlich sahen, unterhielten sie keine Freundschaft im engeren Sinne, man kannte sich eben aus der lockeren Atmosphäre des Clubs. Wenn Evelyn ehrlich war, dann konnte sie Bürotypen wie ihn nicht ausstehen, die kennerhaft Weingläser gegen das Licht hielten, ihre Nasen dort hineinsteckten und vornehm über Anbaugebiete philosophierten, auf die sie noch nie in ihrem Leben einen Fuß gesetzt hatten, geschweige denn, dass sie jemals deren Erde in den Händen hielten. Das wäre alles noch nicht so schlimm, wenn ihr aufgesetzter Stil das erste Glas überdauern würde, stattdessen verloren sie bald jegliche Distanz oder wurden übertrieben charmant, um nicht zu sagen aufdringlich. Den jungen Jan Olaf stellte sich Evelyn immer wie ein einsames Internatskind betuchter Eltern vor, blass und kränklich, ohne jedes Selbstbewusstsein, aber immer strebsam und getrieben. Erst der Erfolg in Studium und Beruf hatte ihn überhaupt wahrnehmbar für andere gemacht.
Die Sekretärin, eine hübsche, brünette Frau in den Vierzigern, begrüßte Evelyn sehr freundlich. Sie hatte warme Augen und die sorgenvollen Fältchen einer Mutter.
»Guten Morgen Frau Hammer, darf ich Ihnen die Jacke abnehmen?«
»Nein, vielen Dank. Ich behalte alles an.«
»Herr von Steinhagen ist noch in einer Besprechung. Es wird einen kleinen Augenblick dauern. Darf ich Ihnen derweil etwas zu trinken anbieten, einen Kaffee oder ein Wasser?«
Evelyn bestellte einen Kaffee und nahm im Besprechungsraum Platz. Alte Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Hansestadt Rostock zierten die Wände. Sie setzte sich an einen runden Tisch, auf dem außer einem Farngewächs Flyer und Visitenkarten aufgestellt waren. Ihr gegenüber prangten in Eichenregalen hunderte Bücher mit schwarzen Ledereinbänden und goldenen Lettern. Der Kaffee tat gut, Evelyn litt, seit sie aus dem Krankenhaus gekommen war, unter Schlafmangel.
»Guten Morgen, gnädige Frau Zoodirektorin.« Jan Olaf von Steinhagen setzte sein unwiderstehlichstes Lächeln ein und deutete sogar eine leichte Verbeugung an. Evelyn roch frischen Zigarettenrauch an seinen Händen.
»Danke, Jan Olaf, dass du dir für mich Zeit nimmst.« Sie strich ihr Kopftuch glatt und fügte hinzu: »Und vor allem danke, dass du das alles für mich geregelt hast. Ich weiß das wirklich zu
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