Herrentier
Verwaltungsgebäude geparkt. Der dunkelbraune Designklassiker passte farblich hervorragend in die mittlerweile herbstlich gewordene Landschaft des Barnstorfer Waldes. Seine Form erinnerte sogar ein wenig an die Kantigkeit der Pferdewagen, die an dieser Stelle fast eineinhalb Jahrhunderte zuvor entlanggezogen wurden. Eine Straßenbahn, moderne Nachfolgerin der Pferdekraft von einst, nahm gerade quietschend die Kurve, als um 17.50 Uhr, im Dämmerlicht des Sonnenuntergangs, der 1,5 Tonnen schwere Volvo wieder auf den Parkplatz rollte. Noch während der Fahrt erloschen die Scheinwerfer. Dann drehte der Wagen, gemächlich wie ein alter Wolf, auf dem Platz eine Runde, um kurz darauf an der Stelle mit der besten Aussicht zur Ruhe zu kommen.
Wie an den acht Dienstagen zuvor verließ Frau Winkelmann, die Sachbearbeiterin aus dem zweiten Stock, das Gebäude um 17.55 Uhr, um Punkt 17.59 Uhr in die Straßenbahn zu steigen. Noch brannte Licht in zwei Räumen, wie üblich. Beide befanden sich im linken Trakt, der rechte Teil war menschenleer und bereits so dunkel wie der dahinter liegende Wald. Noch ließ sich die Tür ohne Mühe öffnen. Bis 18.15 Uhr würden alle Mitarbeiter das Gebäude verlassen haben. 45 Minuten Zeit, ehe die beiden Servicekräfte, die vom Sicherheitsdienst gestellt wurden, das Haus betraten, um Kaffeetassen in die Geschirrspüler zu stellen, Papierkörbe zu leeren und alle sonstigen Tätigkeiten zu verrichten, die moderne Büromenschen aus ökonomischen Gründen nicht mehr taten. Für die Tippenden dieser Welt reinigt sich alles wie von Zauberhand allein. Gleich einem fernsehguckenden Kleinkind bemerken sie keine Veränderungen außerhalb ihres Tunnels zum Monitor. Sie starren den ganzen Tag auf dieses beleuchtete Rechteck, ausgerichtet nach Datenbänken, Tabellen, Aufgabenlisten, Nachrichten, Kostenplänen, Einnahmen, Ausgaben, Öffnungs- und Fahrzeiten. Alles in Zeilen und Spalten sortiert, auf Festplatten und in Regalen archiviert. Auf diese Ordnung ist stets Verlass. So war es auch an diesem Dienstag, als jemandem eine Dreiviertelstunde Zeit ausreichte, um im Büro der Direktorin zum Ziel zu kommen. Da das Sekretariat zur Waldseite lag, sprach nichts dagegen das Licht einzuschalten. Der Aktenvernichter Hexel Office C55-S2 von der Firma Ideala war dank seines intuitiven Bedienpanels sofort betriebsbereit. Sein laufruhiger 1600-Watt-Wechselstrommotor mit einem für den Dauereinsatz geeigneten Kettenantrieb vernichtete gleichzeitig bis zu 55 Blatt im Streifenschnitt der Sicherheitsstufe 2 und setzte sich auch über CDs und DVDs mühelos hinweg. Das Schneidwerk mit gehärteten Vollstahlmesserwellen sog Blätter hungrig und präzise ein. Präzision. Welch ein wundervolles Wort. Man kann es ausschließlich nur im Sinne seiner Bedeutung aussprechen, wenn man es korrekt tun will. Präzise. Man möchte die Augen verschließen. Kaum drückte sich ein Stapel an die Sicherheitsöffnung, drang die Cellulose wie selbstverständlich ein, wurde gleichsam Teil des Apparates, ein Schwert, das in seine Scheide gleitet. Ein nahezu erotischer Akt, ein Musizieren, das Herausnehmen der Blätter durch die behandschuhten Finger und das Einführen der Dokumente in den Hexel Office C55-S2. Nach exakt 32 Minuten waren die mit Zahlen und Buchstaben gefüllten Tabellen aus sieben Jahrgängen fein gestreift im Einwegplastiksack. Die Ordner standen wieder im Regal, ihr Inhalt hatte den Raum nicht verlassen, sondern war lediglich modifiziert. Möglicherweise vergingen Monate, bevor jemand die Transformation bemerken würde.
Als der Volvo um 18.58 Uhr vom Parkplatz fuhr, saßen Gabriele Schulz und Marita Schönfeld noch in der Straßenbahn, beide in dunkle Parkas gehüllt. Die Kolleginnen, beide mittleren Alters, plauderten ein wenig, während sie im Fenster die Spiegelbilder der anderen Passagiere beobachteten. Als die Bahn den Dr.-Lorenz-Weg passierte, setzten sie fast synchron ihre Kapuzen auf und zogen sich an den verchromten Haltestangen hoch, erst Gabriele, dann Marita. An der nächsten Station stiegen sie aus. Wie immer betraten sie das Verwaltungsgebäude nicht sofort, sondern suchten vor Arbeitsbeginn erst einmal Schutz an der Südseite des Hauses. Qualm stieg auf. Um 19.08 Uhr warfen sie ihre Zigarettenkippen in den Sand und begannen mit ihrem Tagewerk, Gabriele im linken Flügel, Marita im rechten. Ein paar Minuten später schaltete Gabriele das Licht im Direktionsbüro wieder ein und nahm den Sack aus
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