Herrgottswinkel
schon. Nun ja, dachte sie bei sich, Hauptsache das Kind ist gesund. Sollten sich die anderen doch ihr Maul zerreißen. Lieber ein uneheliches Kind als ein krankes oder gar keines. Sie freute sich schon sehr auf ihr Enkelkind. »Kinder sind Geschenke vom Herrgott«, hatte sie immer zu ihrem Mann gesagt, wenn sie wieder einmal guter Hoffnung war.
Über hundert Personen wurden zum großen Fest erwartet. Auf den Einladungen hatte Anna vermerkt, dass Teller, Tassen und Besteck selber mitgebracht werden mussten. Am liebsten hätte sie auf der Wittelsbacher Höhe geheiratet, unter freiem Himmel, dort, wo sie ihrem Daniel zum ersten Mal begegnet war. Sind seitdem wirklich erst fünf Monate vergangen, überlegte sie erstaunt, ihr kam es vor, als würde sie Daniel schon ihr ganzes Leben kennen, so vertraut war er ihr. Nun hatte es endlich zu regnen aufgehört und Nebelschwaden zogen über Wiesen und Wälder. In den Bergen hatte es bereits etwas geschneit und die Kühle des Herbstes war auch hier unten schon zu spüren. Nur vereinzelt kamen Sonnenstrahlen zwischen den Wolken hervor, aber immerhin waren nun größere Stücke blauen Himmels zu sehen.
Die Mutter hatte Zöpfe gebacken, der Vater eine Sau geschlachtet. Nein, nachsagen wollte er sich nichts lassen, was die Hochzeit seiner einzigen Tochter betraf. Morgen wurde Erntedankfest in der Kirche gefeiert und Anna würde dort ihrem Daniel das Jawort geben. Am heutigen Vortag ging es auf die Gemeinde, wo ›weltlich‹ geheiratet werden sollte. Anna trug ihr schwarzes Sonntagsdirndl mit einer weißen Bluse und einer blauen Schürze und kam so wild die Treppe heruntergesprungen, dass das Gebälk knarrte. »Du springst uns noch das ganze Haus zusammen«, ermahnte der alte Bader vorwurfsvoll seine Tochter.
Annas ältester Bruder Jakob stand bereits fertig angezogen an der Tür. Auch Daniel war nun eingetroffen und hatte einen kleinen herbstlichen Blumenstrauß mitgebracht. Als Anna zur Tür herauskam, nahm er sie fest in seine Arme und drückte ihr einen schnellen Kuss auf den Mund. »Doch nicht vor den Eltern«, meinte Anna verschämt. Doch die Eltern schauten sich nur lachend an und forderten die jungen Leute auf, sich zu beeilen, schließlich könne morgen keine kirch liche Trauung stattfinden und wenn sie heute zu spät kämen, müssten alle Gäste unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen. Daniel holte eine Kiste vom Wagen, die mit einem weißen Bettlaken zugedeckt war, und trug sie in die Küche. »Für morgen«, sagte er zu seinen zukünftigen Schwiegereltern. Dann nahm er ohne ein weiteres Wort seine Anna bei der Hand und hob sie auf den Kutschbock. Jakob kletterte auf die Rückbank.
Zu dritt fuhren sie mit dem Einspänner nach Sonthofen, wo Daniels Bruder Seppi und sein bester Freund Henne schon nervös vor dem Rathaus warteten. Nach einer kurzen Be grüßung betraten die beiden Geschwisterpaare das Gebäude, während Henne unten vor dem Portal blieb und dem Pferd Hafer und Stroh gab. Die Zeremonie dauerte kaum eine Viertelstunde, der Bürgermeister war wohl hungrig und wollte um zwölf Uhr zu Hause sein. Nach der Übergabe der Heiratsurkunde wünschte er Anna und Daniel viel Glück und einen reichen Kindersegen. Er schüttelte allen Anwesenden die Hand und zum Schluss, als alle bereits wieder vor dem Rathaus standen, fügte er Daniel gegenüber noch mit einem eindringlichen Unterton in der Stimme hinzu, er habe ja nun große Verantwortung und mit dem Wildern sei hoffentlich Schluss. Daniel erwiderte, dass er sein Lehrgeld im vergangenen Sommer in Kempten schon bezahlt habe, und bestieg mit Anna schnell den Wagen. Die beiden Trauzeugen saßen bereits vorn auf dem Kutschbock.
Mittlerweile war es wieder richtig warm geworden, und nur vereinzelte Wolkenfetzen trieben noch am blauen Himmel. Sie machten am Gasthof zum Hirschen halt und tranken ein kühles Bier. Die Freunde prosteten dem jungen Paar zu. Auch Anna nahm einen großen Schluck aus Daniels Glas. Sie saßen lachend am Tisch unter den alten Kastanien und alberten herum. Anna war glücklich und doch war ihr Herz schwer von dem, was der Bürgermeister zum Schluss angedeutet hatte. Daniel schien ihre Gedanken erraten zu haben und meinte abfällig, während er ihre Hand fest in die seine nahm: »Der Bürgermeister ist ein alter Schwätzer, denk dir nichts!«
Dann wurde es Zeit, sich auf den Heimweg zu machen. Daniel fuhr mit Ross und Wagen und nahm seinen Bruder und Henne mit. Anna ging mit Jakob zu Fuß. Sie
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