Herrgottswinkel
sprachen nicht viel.
»Ich kann gar nicht verstehen, was ihr am Bier so köstlich findet«, sagte sie plötzlich aus heiterem Himmel zu ihrem Bruder. »Außer vielleicht, dass es einen so lustig werden lässt.« Ihr war das Bier ziemlich in den Kopf gestiegen und am liebsten wäre sie irgendwo mit Daniel allein gewesen. Da fiel ihr mit einem Mal eine Möglichkeit ein, ihm auf andere Weise ganz nahe zu sein. »Ich gehe noch auf die Wittels bacher Höhe zu dem schönen, alten Lindenbaum, bei dem ich Daniel kennengelernt habe, und wünsche mir etwas für unser Leben zu zweit«, erklärte sie entschlossen. »Kommst du mit?«
»Meinetwegen«, antwortete Jakob kopfschüttelnd, »du tust eh, was du willst, und du bekommst auch immer, was du willst.«
Als sie den steilen Weg über den Seewendel zurückgelegt hatten und in Schweineberg angekommen waren, setzte sich Jakob auf einen Holzklotz am Wegrand und schaute seiner Schwester nach, wie sie barfüßig den steilen Hang hinaufrannte. Dann schmiegte sie ihren schlanken Körper an den Lindenbaum, ihre Arme umklammerten ihn wie die einer Ertrinkenden, Tränen liefen ihr übers Gesicht und sie betete mit all der Kraft und Leidenschaft, die sie für Daniel empfand. »Lieber Gott, hilf mir, Daniel vom Wildern abzubringen, und lass uns zusammen mit unseren Kindern glücklich und gemeinsam uralt werden!« Wie lange sie so dagestanden und gebetet hatte, wusste sie hinterher nicht mehr. Irgendwann hörte sie von weit her eine Stimme ungeduldig »Anna« rufen. Sie ließ den Baum erschreckt los und lief die Anhöhe hinunter.
Zurück bei ihrem Bruder angelangt, zog sie geschwind ihre Schuhe an und nun gingen sie übers Tiefenberger Moor mit schnellem Schritt ihrem Elternhaus entgegen. Dort ange kommen kleidete Anna sich um und half der Mutter, die am Backen war und unentwegt Teig knetete, in der Küche. Als es später im Haus langsam still wurde und alle nach getaner Arbeit im Bett lagen, konnte Anna lange nicht einschlafen. Ab morgen würde sie nicht mehr in diesem Bett schlafen – Daniel würde sie auf die Breite mitnehmen! Mit dieser Vorfreude schlief sie schließlich tief und fest ein und wurde erst wieder wach, als es laut an ihrer Zimmertür klopfte.
Die Mutter brachte Anna das Brautkleid, das schon sie bei ihrer Hochzeit getragen und das die Schneiderin bis gestern Abend geändert hatte. Anna hatte Zweifel, als sie es sich verschlafen anschaute. »Es ist nicht wichtig, ob es neu ist«, sagte die Mutter, »viel wichtiger ist, was man fühlt, wenn man es anhat.«
Schnell schlüpfte Anna aus dem Bett und nachdem sie eine Katzenwäsche gemacht hatte und ihr seidenweiches, langes Haar gekämmt war, steckte die Mutter es geschickt zu einer Gretelfrisur zusammen. Dann zog Anna ehrfürchtig das Kleid über und war sichtlich erstaunt, wie gut es ihr passte. Vor dem Hof waren schon ihre Brüder, der Vater und fast das ganze Dorf versammelt, um gemeinsam zum Gottesdienst nach Fischen aufzubrechen. Ein langer Festzug ging von Bolsterlang an der Au-Mühle vorbei bis Fischen. Dort warteten weitere Gäste, Kirchgänger und Schaulustige.
Nur der Hochzeiter und seine Familie waren noch nicht eingetroffen. Schon wurde gemunkelt, der gut aussehende Daniel würde in letzter Minute noch einen Rückzieher machen, konnte er doch an jedem Finger fünf haben, wie manche bösen Zungen behaupteten. Anna jedoch wartete tapfer mit ihren Eltern vor der Kirche. Als die meisten schon hineingegangen waren und der Pfarrer mit seinen Ministranten vom Pfarrhof kam, waren plötzlich von Weitem Pferdefuhrwerke zu hören.
»Da kommt Daniel«, rief Anna freudig. Es waren drei Fuhrwerke, voran Daniel mit seinen Eltern, seiner Schwester und dem Bruder, dahinter Daniels Freunde aus Tiefenberg, unter ihnen Henne und Bocker, und als Letztes ein Wagen mit Verwandten, die Anna nicht kannte. Daniel begrüßte Anna mit einem breiten Lächeln und hakte sie unter. Die Begrüßung der Schwiegermutter und Schwägerin dagegen fiel eher kühl aus.
Als alle anderen in der Kirche versammelt waren, nahm Daniel Anna zur Seite und flüsterte ihr ins Ohr: »Es tut mir leid, dass ich mich so verspätet habe, aber du weißt ja, die Leute … An jeder Kreuzung musste ich den Wagen anhalten, weil mir schon wieder einer zur Hochzeit gratulieren wollte. Manche hatten sogar ein kleines Geschenk für uns beide dabei. Und so ist es immer später geworden.« Dann gingen sie hinter dem Pfarrer und den Ministranten durch die weit geöffnete
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