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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Gründe.«
    »Hör auf damit.«
    »Weise, aber nicht immer gerecht.« Ein röchelndes Kichern kam aus Gunthilds Kehle. Ihre Lippen, einst nur unsichtbare Striche, waren jetzt angeschwollen und aufgeplatzt. Schaudernd dachte Saga, dass Gunthild ausgerechnet in der Stunde ihres Todes zum ersten Mal wie eine lebendige Frau aussah.
    »Die Wahrheit ist eine andere, als ich dachte«, krächzte die Nonne. »Ich habe mich in dir getäuscht.«
    Saga suchte nach Worten, wollte die Sterbende besänftigen, doch ihr fiel keine Erwiderung ein, die nicht falsch geklungen hätte. Stattdessen wartete sie ab und gab sich Mühe, ihre eigenen Schmerzen zu ignorieren. Sie musste sich mit einer Hand am Bettpfosten abstützen, um sich aufrecht zu halten.
    »Wenn der Herr mich zu sich ruft und dich am Leben lässt, dann muss es dafür einen guten Grund geben.« Die Nonne sprach undeutlich, und jetzt wurde ihre Stimme immer leiser. Saga verstand dennoch jedes ihrer Worte. »Er verfolgt ein Ziel mit all seinem Tun. Auch für dich hat er eines. Ob du willst oder nicht – du bist sein. Du dienst ihm mit jedem Schritt, mit jeder deiner Lügen.«
    »Ich will das nicht hören«, flüsterte Saga.
    »Er hält alle Fäden in der Hand. Sträube dich nicht dagegen. Lass es einfach geschehen.« Gunthild hatte nie zuvor so zu ihr gesprochen. Für einen Moment glaubte Saga, der nahe Tod habe die Nonne milde gestimmt, doch dann erkannte sie die Wahrheit. Gunthild ergab sich ganz ihrem letzten großen Triumph.
    »Er ruft mich zu sich, weil er dich ins Verderben führt. Dich und alle, die dir folgen. Ich war blind, aber jetzt sehe ich. Auch Judas hat Gottes Willen erfüllt, ohne es zu wissen. Du bist wie er, Saga. Du verrätst jene, die dem Herrn treu ergeben sind – aber am Ende wird er dich erleuchten, und auch du wirst seine Gründe begreifen. Du bist sein Judas, sein Antichrist.«
    Ein Hustenanfall brachte Unmengen Blut zum Vorschein, das sich wie ein stachliges Diadem über die Decke rund um Gunthilds Kinn ergoss. Saga überwand ihre Abscheu und wollte eine Hand unter den knochigen Hinterkopf schieben, doch die Nonne krächzte nur, sie solle nicht wagen, sie anzufassen.
    »Du bist der Feind, den er sich selbst erschaffen hat. Die Versuchung am Baum der Erkenntnis. Du bist die Herrin der Lüge.«
    Saga taumelte einen Schritt zurück, ließ dabei den stützenden Bettpfosten los und verlor fast das Gleichgewicht. Nur unter größter Anstrengung gelang es ihr, auf den Beinen zu bleiben.
    »Du bist nichts als eine verbitterte alte Frau«, brachte sie atemlos hervor. »Ich hoffe, du verrottest in der Hölle!«
    »Die Hölle, Saga?« Gunthild stieß ein entsetzliches Lachen aus, das wie Husten klang. »Ich verlasse die Hölle und betrete sein Königreich. Du aber wanderst mit jedem Schritt tiefer hinein. Du glaubst, was heute geschehen ist, war schlimm? Es war nichts als ein Anfang. Die wahre Verdammnis erwartet dich noch. Dich und die Gräfin und all diese Frauen dort draußen.«
    Gunthilds Mund fiel ein Stück weit auf, aber noch immer drang röchelndes Keuchen aus ihrer Kehle.
    Saga sank mit beiden Händen gegen die Wand und tastete sich zur Tür. Sie wollte nicht hier sein, wenn diese Hexe ihren letzten Atemzug tat. Wollte nicht im selben Raum, nicht einmal im selben Haus sein, wenn Gunthilds Seele ihrem Körper entwich und frei durchs Zimmer schwebte. Selbst dann mochte sie noch Hass und Zorn versprühen wie aus einem giftigen Wespenstachel.
    Die Knochenhand über der Bettkante streckte sich zitternd nach ihr aus, als wollte die Sterbende sie festhalten, doch da bekam Saga endlich die Tür auf und stolperte hinaus in die vordere Kammer. Zinder stand mit Violante an der Haustür. Jetzt sprang er eilig herbei und fing Saga auf, hielt sie zum zweiten Mal an diesem Tag in seinem Arm und flüsterte beruhigend auf sie ein. Mit einer Hand raffte sie den Mantel vor ihrer Brust zusammen, krampfte die Finger fest um die Wolle.
    Violante hastete an ihr vorbei ins Hinterzimmer, gefolgt von der Heilkundigen.
    Wenig später kehrten sie zurück. »Ihre Haut ist schon kalt«, sagte die Gräfin mit kreideweißen Zügen.
    Zinder schnaubte. »Unmöglich.«
    Die Heilkundige kam zu Saga herüber und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Ist sie gestorben, gleich nachdem wir das Zimmer verlassen haben?«
    Saga schüttelte mühsam den Kopf. Der Schmerz drohte ihren Verstand zu verschlingen. »Sie hat gesprochen … immer weitergesprochen.«
    »Das kann nicht sein. Sie muss schon

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