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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Ruhe dort oben, unveränderlich und blind gegenüber dem Treiben der Menschen am Boden, dann würde etwas von dieser Gelassenheit auch auf sie selbst übergehen und das Unausweichliche leichter machen.
    Hände streckten sich nach ihr aus, berührten sie. Die jungen Mädchen, die sie als Erste erreichten, fielen auf die Knie, um ihr zu huldigen, wurden aber gleich darauf von der nächsten Welle niedergetrampelt oder vorwärts geschoben, über Saga hinweg, die den Halt und das Gefühl für oben und unten verlor, und plötzlich inmitten einer Flut aus zupackenden Händen gefangen war, hin- und hergerissen, durchgeschüttelt, und dann schier in Brand gesetzt von Schmerzen.
    Durch einen Schleier aus Panik und Pein sah sie ein Gesicht neben sich, sah eigentlich Dutzende, aber doch dieses eine inmitten der anderen – Gunthilds Gesicht, das wie eine Erscheinung im Zentrum dieses Menschenwirbels leuchtete, umhergeworfen wie sie selbst, und doch mit festem Blickkontakt zu ihr. Dunkle, alte Augen voller Abscheu. Schmale, verdorrte Lippen, die sich öffneten und schlossen, als flüsterten sie ihr etwas zu.
    »Glaub nicht, dass es immer so sein wird«, drangen Worte wie Gift an ihre Ohren. »Irgendwann werden sie die Wahrheit erkennen. Irgendwann werden sie begreifen, was du wirklich bist.«
    Dann verschwand Gunthild zwischen den anderen, und Saga glaubte an einen Traum, eine Vision, die von den Schmerzen aus ihren eigenen Gedanken emporgespült und wieder ausgelöscht worden war. Sie spürte, dass ihre Kleider zerrissen wurden, von gierigen Händen, die einander um den kleinsten Fetzen kämpften, spürte, wie jemand an ihren Haaren riss, wie sie von allen Seiten betastet, befühlt, vereinnahmt wurde. Dann bekam sie keine Luft mehr, niedergepresst am Boden von all den Körpern, die über sie kamen und ihrerseits von anderen begraben wurden, als hätten die Berge selbst beschlossen, sich über die Menschen hinwegzuwälzen und dabei alles zu zermalmen, das ihnen im Weg war.
    Keine Luft, dachte sie noch einmal.
    Sie hörte Stimmen von Männern. Zinders Stimme. Er rief ihren Namen.
    Trotzdem konnte sie nicht atmen. So viel Gewicht auf ihrer Brust. Auf ihrem Kopf, der zu zerspringen drohte. Auf ihrem Becken.
    »Saga!«
    So sollte er mich nicht nennen, dachte sie noch. Nicht vor all diesen Menschen.
    Saga. Die Magdalena.
    Gott, das bin ich!
    Zinder half ihr auf die Beine, schrie andere an, zurückzubleiben, hatte den linken Arm um ihre Taille gelegt und schlug mit dem rechten um sich, stieß Menschen von dem Podest, trat jemanden beiseite und stand doch fest verankert inmitten all dieses Chaos und beschützte Saga vor dem Ansturm der Masse.
    Sie war nackt, trug keinen Faden mehr am Körper. Alles war fortgerissen, unter den Gläubigen verteilt, als wäre jeder Fetzen ihrer Kleidung eine Reliquie.
    Aber ich lebe noch, schrie es stumm in ihr, und Reliquien sammelt man nur von Toten!
    Dabei hätte sie tot sein können, ganz gewiss sogar, wenn Zinder ihr nicht beigestanden hätte. Er war wie ein Fels, um den sich die Wogen teilten, und der allein kraft seiner Aura aus Zorn und Entschlossenheit die fanatischen Frauen in ihrem Wahn auseinander trieb.
    Sie wusste nicht, wie lange das so ging – sie splitternackt in seinem Arm, halb stehend, halb in sich zusammengesunken –, während er um ihr Leben kämpfte, gegen Menschen, die ihr doch eigentlich gar nichts Böses wollten, die nur etwas von ihr besitzen wollten, einen Schatten ihrer Heiligkeit und Nähe zu Gott. Und das alles um einer Lüge willen.
    »Ich kann stehen«, brachte sie stöhnend hervor. »Zinder, es geht schon … du kannst mich loslassen.«
    »Den Teufel werd ich tun!«
    »Nein, wirklich … es geht.«
    Er schlug einem Mädchen ins Gesicht, das mit verzücktem, wahnhaftem Blick auf sie zustürmte, als alle anderen sich schon zurückzogen. Saga sah die Kleine davontaumeln, vom Rand des Podests kippen und im Strudel der Menge verschwinden.
    »Wie … wie konnte das nur passieren …«
    »Zu wenig Männer«, keuchte er verbissen. »Ich rede seit Tagen, dass wir mehr Soldaten brauchen, Wachen für dich und den ganzen Zug, aber Violante wollte nicht auf mich hören.«
    Andere Söldner waren mittlerweile ebenfalls ins Zentrum des Platzes vorgedrungen und trieben die Frauen mit blanken Klingen auseinander.
    »Sie sollen … ihnen nichts tun«, brachte Saga hervor. »Sie wollen nichts …«
    »Sie hätten dich fast umgebracht!«
    Sie schüttelte den Kopf. Ihr Nacken tat weh. Um ein

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