Herrin der Lüge
vor einer ganzen Weile an ihrem eigenen Blut erstickt sein.« Die Frau senkte den Blick. »Vor mindestens einer Stunde, wenn ich es nicht besser wüsste.«
Violante schüttelte ungehalten den Kopf. »Wir haben keine Tote in dieses Haus getragen.« Ihr Zorn wirkte un echt, als wüsste sie selbst nicht, gegen wen er sich richtete.
»Sie hat gesprochen«, flüsterte Saga beharrlich.
»Was hat sie gesagt?«, fragte Zinder.
Alle blickten sie erwartungsvoll an.
»Nichts«, flüsterte sie nach Augenblicken angespannten Schweigens. »Sie hat nicht gesprochen«, wisperte der Lügengeist.
Die Heilerin nickte zufrieden. »Sie muss gestorben sein, als wir die Kammer verlassen haben. Deshalb ist sie so kalt.«
Herrin der Lüge. Der Feind, den er selbst sich erschaffen hat. Gunthilds Worte. Die Worte einer Toten.
»Komm«, sagte Zinder, »ich bring dich hier raus.«
Er hob sie auf, eingewickelt in den Mantel einer Fremden, und diesmal wehrte sie sich nicht. Im Rücken spürte sie den Knauf von Wielands Schwert, als er sie hinaustrug in den Schatten des Gebirges.
Die Geschichte des Söldners
Saga wusste nicht, wie viele Stunden verstrichen waren, als sie aus etwas erwachte, das ebenso gut Schlaf wie Ohnmacht gewesen sein mochte. Draußen herrschte tiefe Nacht. Eine Öllampe hing an einem Haken von einer Zeltstange und spendete zuckendes Licht.
Zinders breiter Rücken verdeckte den Eingang zu ihrem Zelt. Er hielt Wache.
Als sie sich regte, drehte er sich um, kam mit raschen Schritten herein und ging neben ihrem Lager in die Hocke.
Sie hob den Oberkörper und stützte sich auf die Ellbogen. Allein diese kurze Bewegung verursachte ihr Schmerzen in den Schultern, im Rücken und der Brust, aber das hielt sie aus.
»Leg dich wieder hin«, bat er. »Du musst dich erholen.«
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Den Rest des Tages und mehr als die halbe Nacht. Erst in der Kutsche, dann hier im Zelt. In ein paar Stunden geht die Sonne auf.«
Erleichtert schloss sie die Augen. »Wir sind nicht mehr in dem Dorf?«
»Nein. Wir folgen jetzt dem Rhein tiefer ins Gebirge. Wir haben versucht, die meisten Mädchen davon abzuhalten, mit uns zu gehen, aber sie ziehen trotzdem hinter uns her. Früher oder später können wir sie nicht mehr abweisen.«
»So war das alles nicht geplant, oder?«
Er zuckte die Achseln. »Das solltest du Violante fragen. Seit wir das Lager aufgeschlagen haben, war sie fast die ganze Zeit an deiner Seite. Es ist noch nicht lange her, dass sie sich schlafen gelegt hat.«
»Sie weiß, dass es schwierig wird, wenn ich ihr wegsterbe.«
»Mag sein.«
»Du glaubst doch nicht etwa, dass sie sich meinetwillen Sorgen gemacht hat?«
»Sie ist nicht leicht zu durchschauen.«
Er setzte sich auf den Boden und zog die Knie an. Auf seltsame Weise ließ ihn das viel jünger erscheinen. Saga hatte noch nie einen Mann seines Alters getroffen, der sich so hinsetzte.
»Deine Gelenke knacken«, sagte sie.
»Ich bin alt.«
»Genau daran musste ich gerade denken.«
Er erwiderte ihr Lächeln und rieb sich müde die Augen.
»Erzähl mir von dem letzten Kreuzzug«, sagte Saga unvermittelt. Sie versuchte, sich auf die Seite zu rollen, damit sie ihn leichter ansehen konnte. Es ging besser, als sie erwartet hatte. Man hatte ihr keine Glieder geschient, auch war keine ihrer Rippen gebrochen. Fast konnte sie verstehen, weshalb Gunthild an ein Eingreifen Gottes geglaubt hatte: Es schien wie ein Wunder, dass Saga den Ansturm nahezu unverletzt überstanden hatte, während die Nonne an den Folgen sterben musste. Die Wege des Herrn wären nicht immer gerecht, hatte Gunthild gesagt. Dem war schwerlich zu widersprechen.
Zinder runzelte die Stirn. »Vom Kreuzzug? Warum?«
»Diese Männer, damals«, sagte sie, »waren die Letzten, die vor uns den Versuch gemacht haben, gegen Jerusalem zu ziehen. Nach dem, was gestern passiert ist, sollte ich allmählich anfangen, mir Gedanken darüber zu machen, weshalb sie gescheitert sind.«
»An nichts, worauf du Einfluss hättest.« Aber in seinen Augen sah sie ein Aufblitzen von Überraschung. Und Anerkennung. »Du willst diesen Weg wirklich zu Ende gehen?«
Sie versuchte, die Schultern zu heben. Es gelang nur halbherzig, bevor ihre verspannten Muskeln blockierten. »Ich weiß es nicht. Könnte ich denn überhaupt noch zurück?«
»Hier geht es nicht mehr um dich, Saga. Violante könnte jede andere auf ein Podest stellen, und diese Mädchen würden ihr folgen. Ist dir nicht aufgefallen,
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