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Herrin der Lüge

Herrin der Lüge

Titel: Herrin der Lüge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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immer benommen und von grässlichem Schwindel gepeinigt, kaum in der Lage, sich aus eigener Kraft auf den Beinen zu halten.
    Es war die Gräfin. Violante war sehr blass, ihr blondes Haar zerzaust. Ein blutiger Handabdruck leuchtete an ihrem rechten Ärmel, als hätte sich jemand unter Schmerzen daran festgekrallt.
    »Gunthild«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Sie haben sie niedergetrampelt.«
    Saga erinnerte sich an das hasserfüllte Gesicht in der Menge. An die Vision, die keine gewesen war. »Wie geht es ihr?«
    »Sie stirbt. Sie will dich ein letztes Mal sehen.«
    Man hatte die alte Nonne in eines der Häuser gebracht und im Erdgeschoss auf Decken gebettet. Der Besitzer protestierte, in Schach gehalten von zwei Söldnern mit gezogenen Schwertern, während seine Frau dienstbeflissen Wasser und Tücher herbeibrachte. Unter allerlei Verbeugungen eilte sie vor Saga, Violante und Zinder her, als wäre die Heilige Dreifaltigkeit persönlich in ihrem Haus erschienen. Sie entschuldigte sich für das unwürdige Gebaren ihres Mannes, für den Schmutz in der Kammer, sogar für den Lärm, der durch die geschlossenen Läden hereindrang.
    »Es ist gut«, sagte Saga und zog sich den Mantel enger um die Schultern. »Du hast uns einen großen Dienst erwiesen. Der Herr wird es dir danken.« Mittlerweile sagte sie solche Dinge, ohne darüber nachzudenken. Gott dankt es dir. Jesus wacht über dich. Die Jungfrau Maria ist immer bei dir. Sie hatte nicht nur das Ausmaß ihrer eigenen Macht erkannt, sondern auch den Einfluss bestimmter Worte. Kein Lügengeist war nötig, um den Glauben der einfachen Menschen zu entfachen.
    Gunthild schien nicht zu bemerken, dass Saga an ihr Lager trat. Die Nonne war bis zum Hals zugedeckt, und Saga war dankbar dafür. Ihrem zertrümmerten Gesicht nach zu urteilen, musste sie unter dem Stoff entsetzlich aussehen. Ein Wunder, dass überhaupt noch Leben in ihr war. Eine Hand ragte unter der Decke hervor, baumelte leblos über der Bettkante. Ein feiner Blutfaden troff vom Mittelfinger zum Boden hinunter.
    Sie lag auf dem Rücken, den trüben Blick zur Decke gerichtet.
    »Du bist gekommen«, kam es krächzend über ihre aufgeplatzten Lippen. Ein Wangenknochen war unter einer dunkelroten Schwellung verschwunden, der andere auf groteske Art nach innen gebeult wie ein geleerter Weinschlauch. Ihr hatten schon vorher Zähne gefehlt, aber jetzt klaffte zwischen ihren Lippen ein hässliches, rotes Loch. Ein Wunder, dass ihre Worte überhaupt zu verstehen waren.
    »Es tut mir so leid«, sagte Saga. »Ich hätte mir gewünscht, dass du die Heilige Stadt mit eigenen Augen siehst.«
    »Aber ich kann sie sehen, Saga! Im Gegensatz zu dir werde ich bald dort sein. Der Herr erwartet mich mit ausgebreiteten Armen.«
    Eine Heilkundige, die sich notdürftig um Gunthilds Versorgung gekümmert hatte, beugte sich an Sagas Ohr. »Sie phantasiert und sieht … Dinge.«
    »Lasst uns allein«, keuchte die Nonne.
    Saga zögerte, dann nickte sie.
    Violante wollte protestieren, doch Zinder gab bereits allen anderen in der Kammer zu verstehen, dass sie hinausgehen sollten. Zuletzt waren neben Saga und der Sterbenden nur noch der Söldnerhauptmann und die Gräfin anwesend.
    »Ihr auch«, sagte Saga, ohne den Blick vom zerstörten Gesicht der Nonne zu nehmen. »Geht. Bitte.«
    Violante gefiel es nicht, aber sie gab nach. Wortlos fuhr sie herum und schritt mit erhobenem Haupt aus der Kammer. Zinder nickte Saga zu, dann folgte er der Gräfin und zog die knarrende Tür hinter sich zu.
    »Du bist nicht verletzt«, sagte die Nonne. Es war eine Feststellung, keine Frage. Dabei blickte sie Saga noch immer nicht an.
    »Ein paar Schrammen, das ist alles.« Spätestens morgen Abend würde sie am ganzen Körper grün und blau sein, aber das war nichts im Vergleich zu den Verletzungen, die sich unter dieser Decke verbargen.
    »Er hat dich beschützt«, sagte Gunthild.
    »Zinder hat mich gerettet. Er war plötzlich da und –«
    »Nicht dieser Söldner. Er! Unser Herr Jesus Christus!«
    Saga atmete tief durch. »Schon möglich.«
    »Es ist, als wollte er uns verspotten, nicht wahr?« Gunthilds Stimme wurde von einem feuchten Lispeln beherrscht, als wäre ihr beim Sprechen die eigene Zunge im Weg. Und Blut, viel zu viel Blut, sickerte als Faden aus ihrem Mundwinkel, sogar in der Rückenlage; es war, als liefe etwas in ihr einfach über. »Aber selbst in seinem Hohn liegt Wahrheit. Er hat seine Entscheidung getroffen, und unfassbar weise sind seine

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