Herrin der Stürme
waren. Während sie stickten, ging die Harfe von Hand zu Hand. Von jeder Frau wurde erwartet, daß sie ein Lied sang oder eine Geschichte erzählte, um die anderen zu unterhalten. Elisa hatte die große Harfe aus dem Unterrichtsraum herbringen lassen und sang Balladen aus den Bergen. Verschiedene Leckerbissen waren als Erfrischung vorbereitet worden, einschließlich einiger Süßigkeiten, die Dorilys besonders gern mochte, aber Renata bemerkte, daß sie nur lustlos an ihnen knabberte.
»Was ist los, Chiya?«
Dorilys fuhr mit den Händen über ihre Augen. »Ich bin müde, und meine Augen tun mir ein bißchen weh. Mir ist nicht nach Essen zumute.«
»Nun komm schon, dafür ist es zu spät«, neckte eine von ihnen. »Vor zwei oder drei Tagen waren deine Kopfschmerzen an der Reihe und andere eingebildete Krankheiten dieser Art. Jetzt sollte es dir eigentlich wieder ganz gut gehen.« Sie untersuchte die Länge des Leinens in Dorilys’ Schoß.
»Was machst du da, Dori?«
Dorilys antwortete mit Würde: »Ich besticke ein Feiertagshemd für meinen Mann« und bewegte ihr Handgelenk, um den Catenas Armreif sichtbar werden zu lassen. Sie beobachtend, wußte Renata plötzlich nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Eine traditionelle Beschäftigung für eine Braut, und das Kind war in eine Ehe gegeben worden, die nie mehr als ein Blendwerk sein würde! Nun, sie war noch sehr jung, und es würde nicht schaden, wenn sie ein Hemd für den älteren Bruder bestickte, den sie liebte, und der in ihren Augen ihr Ehemann war. Elisa beendete ihre Ballade und wandte sich Cassandra zu. »Ihr seid an der Reihe. Wollt Ihr uns den Vorzug eines Liedes erweisen, Lady Hastur?« fragte sie ehrerbietig.
Cassandra zögerte. Dann machte sie sich klar, daß eine Weigerung als Beleg dafür aufgenommen werden konnte, daß sie sich selbst über die Festversammlung erhaben fühlte.
»Sehr gerne«, sagte sie, »aber ich kann auf der großen Harfe nicht spielen, Elisa. Wenn mir jemand eine Rryl leihen würde …« Nachdem sie das kleinere Instrument gestimmt hatte, sang Cassandra mit lieblicher Stimme zwei oder drei Lieder aus den weitentfernten Valeron-Ebenen. Da sie für die Bergfrauen neu waren, baten sie um mehr, aber Cassandra schüttelte den Kopf.
»Ein andermal, vielleicht. Jetzt ist Dorilys an der Reihe, für uns zu singen, und ich bin sicher, daß sie begierig ist, die neue Laute auszuprobieren«, sagte sie. Die Laute, kunstvoll vergoldet, bemalt und mit Bändern geschmückt, war Lord Aldarans. Geschenk an seine Tochter. »Und ich bin sicher, daß sie eine Unterbrechung der Stickarbeit begrüßen wird.«
Dorilys blickte gleichgültig von dem auf ihren Knien liegenden Leinenstoff auf. »Mir ist nicht nach Singen zumute«, sagte sie. »Entschuldigt mich bitte.« Sie fuhr mit der Hand über die Augen und fing an, sie zu reiben. »Mein Kopf schmerzt. Muß ich noch mehr sticken?« »Nur wenn du möchtest, Liebes, aber wir sticken alle hier«, sagte Margali. In ihrem Geist schuf sie eine freundlich-vergnügte Vorstellung, die Cassandra und Renata deutlich erkennen konnten: daß Dorilys nur allzu bereitwillig Kopfschmerzen entwickelte, wenn sie die verhaßte Näharbeit tun sollte.
»Wie kannst du es wagen, so etwas über mich zu sagen?« schrie Dorilys auf. Sie schleuderte das Hemd in einem verworrenen Knäuel zu Boden. »Ich bin wirklich krank, ich spiele euch nichts vor! Ich will nicht einmal singen, und dazu habe ich sonst immer Lust…« Plötzlich fing sie an zu weinen.
Margali sah bestürzt und konsterniert drein. Ich habe doch den Mund gar nicht geöffnet! Oh, Götter, ist das Kind auch Telepathin? Renata sagte sanft: »Komm her, Dorilys, setz dich zu mir. Deine Pflegemutter hat nichts gesagt. Du hast ihre Gedanken gelesen, das ist alles. Es gibt keinen Grund zur Besorgnis.«
Aber Margali war es nicht gewöhnt, ihre Gedanken vor Dorilys zu verschließen. Sie war im Laufe der Zeit zu der Überzeugung gekommen, daß ihr Zögling nicht eine Spur telepathischer Kraft besaß. Jetzt konnte sie den schnellen Gedanken, der sie durchfuhr, nicht verhindern. Gnädiger Avarra! Das auch noch? Die älteren Kinder Lord Aldarans starben so, als sie heranreiften, und jetzt beginnt es auch bei ihr! Bestürzt griff Renata ein und versuchte, die Gedanken abzuschirmen, aber es war zu spät. Dorilys hatte sie schon aufgenommen. Ihr Schluchzen erstarb. Sie sah Renata in stierem Entsetzen an.
Cousine, werde ich sterben?
Renata sagte fest und laut: »Nein, natürlich
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