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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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vielleicht fünf, höchstens sechs Jahre alt.
    »Wie heißt
du denn?«
    »Christel.«
    »Und wie
weiter?«
    »Christel
Sonnenberg. Wo ist meine Mama?«
    »Komm
mit.« Martha richtete sich langsam auf und versuchte, das Mädchen am
Handgelenk zu greifen. Doch die Kleine riss sich los. Dabei fiel ein
Spielzeugtier zu Boden. Groß wie ein Teddybär, schwarz wie ein Waldkater.
    »Gib das
her!«
    Wie ein
Wiesel stürzte sich das Mädchen auf Martha. Doch sie war schneller und hielt
das Plüschtier außer Reichweite. Im Dämmerdunkel konnte man kaum etwas erkennen,
aber dieses Ding hätte sie selbst blind allein durchs Tasten erkannt, so oft
hatten die Kinder es heimlich gemalt.
    »Schsch.
Du kriegst es ja wieder. Das ist ein Monchichi. Wo hast du das denn her?«
    »Von
meiner Mama.«
    Unsicher
sah Martha sich um. Schwererziehbare Kinder aus asozialen Familien hatten
selten Westspielzeug. Meistens hatten sie gar keins. Das waren schon wieder
zwei Verstöße gegen die Norm, und langsam geriet Martha ins Schwitzen.
    »Du darfst
das nicht behalten. Aber vielleicht kriegst du ein Tiemi.«
    »Ich will
kein Tiemi! Gib her!«
    »Ruhe«,
zischte Martha. »Wenn das einer sieht, ist es sowieso weg. Die Tiemis sind
genauso schön. Ach was, viel schöner! Sie kommen nämlich aus der DDR. Wo ist
dein Bett?«
    Alle
Neuankömmlinge wurden als Erstes zu ihrem Bett geführt. Was für den Mantel der
Haken, war für das Kind sein Bett.
    »Ich hab
kein Bett.«
    »Aber
natürlich hast du eins.«
    »Da liegt
schon jemand drin.«
    Schlafsaal
IV war zurzeit mit achtzehn Mädchen belegt. Neun links, neun rechts. Neuzugänge
und Abgänge wurden bei der täglichen Lagebesprechung im Büro der Heimleiterin
erörtert. Also könnte das Mädchen recht haben. Es fehlte ein Bett. Vorsichtig
öffnete Martha die Tür zum Schlafsaal und spähte hinein.
    Die
Fenster waren, im Gegensatz zum Erdgeschoss, nicht vergittert. An der
Stirnseite hing ein Porträt des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker.
Daneben, nicht ganz so groß, ein Bild von Juri Alexejewitsch Gagarin, dem so
früh verstorbenen sowjetischen Kosmonauten, dem ersten Menschen im All.
    »Wohin
solltest du denn?«, flüsterte sie.
    »Da
hinten.«
    Das Kind
deutete auf das letzte Bett auf der linken Seite. Martha straffte die
Schultern und betrat den Raum, wie sie das bei ihren Kontrollgängen immer tat.
Sie überzeugte sich, dass die Kinder schliefen und nicht nur so taten, zupfte
hier eine Decke zurecht, stellte dort ein Paar nachlässig abgeworfene
Pantoffeln ordentlich mittig unter das Bett und ging dann in die Ecke, in der
Nummer 052 lag - Judith Kepler.
    Aber da
lag niemand. Die Decke war zurückgeschlagen, sogar die Pantoffeln standen noch
da, und auf dem Boden lag ein Tiemi. Ein dunkelbraunes, abgezotteltes
Plüschtier, doppelt so groß wie das, das Martha immer noch in der Hand hielt.
Und, leider, auch doppelt so hässlich.
    Das musste
ein Irrtum sein. Hilflos sah sie sich um, aber 052 war nirgendwo zu sehen.
Vielleicht war sie im Waschraum? Sie überzeugte sich, dass die
Gemeinschaftsduschen und die Toiletten leer waren. Als sie wieder bei dem
rätselhaften Neuzugang angekommen war, bemerkte sie, dass einige Mädchen im
Schlafsaal aufrecht in ihren Betten saßen und sich die Augen rieben.
    »Hinlegen!«
    Sie fielen
um wie erschossen. In Martha breitete sich die unangenehme Hitze aus, die sie
immer spürte, wenn eine Situation außer Kontrolle geriet. Der halbe Schlafsaal
war schon wach. Ein Kind war verschwunden. Ein anderes stand im Flur. Was zum
Teufel war hier los? Und wo steckte Trenkner? Sie beugte sich zu der Kleinen.
    »Ich werde
das klären«, flüsterte sie. »Das hat schon alles seine Richtigkeit.«
    Das Mädchen
schüttelte wild den Kopf. »Ich will zu meiner Mama.«
    »Wo ist
die denn?«
    »Bei
Lenin.«
    »Wo?«
    »In einem
Palast mit Gold und Fenstern aus Edelsteinen.«
    »Lenin
hatte keinen Palast. Nicht so einen.«
    »Aber ich
hab ihn gesehen!«
    Martha
hatte schon zu viele Lügen gehört, um nicht zu wissen, dass sie bei Kindern
dieses Alters immer ein Körnchen Wahrheit enthielten. Wahrscheinlich hatte die
Mutter dieses Märchen erzählt und das Kind ausgesetzt oder hilflos alleingelassen.
Solche Fälle gab es immer wieder. Sie hatten schon einige Kinder von
Republikflüchtlingen vorübergehend aufgenommen. Sie blieben nie lange. Martha
wusste nicht, wohin sie geschickt wurden, aber man hörte, dass sie, anders als
die Schwachsinnigen und Asozialen, ganz gut vermittelt

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