Herrmann, Elisabeth
vorsichtig um, bevor sie mit einer Kopfbewegung den
Unbekannten zu sich befahl, der nach wie vor das Bündel auf seinen Armen trug.
Martha konnte sein Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen. Er musste fast
einen Kopf kleiner sein als Trenkner, machte aber einen kräftigen Eindruck,
auch wenn die Decke jetzt verrutschte und er das Ganze nur mühsam wieder in den
Griff bekam. Sie fiel herab, und für einen Moment sah Martha das blasse Gesicht
eines schlafenden Kindes.
Das war es
also. Ein Neuzugang. Vorsichtig schloss sie die Tür und ging zu ihrem Bett. Sie
setzte sich auf die Kante und überlegte, ob sie sich zeigen sollte oder nicht.
Wahrscheinlich eine Notaufnahme. Ab und zu kam das vor, wenn die Polizei in
Familien eingreifen musste, die es laut einschlägiger sozialistischer
Vorschrift gar nicht geben durfte. Verwahrlosung wurde totgeschwiegen, und die
lebenden Beweise verschwanden in Spezialheimen wie diesem, wo man mit aller
Macht und leider, wenn es gar nicht anders ging, manchmal auch mit Gewalt versuchte,
aus ihnen doch noch etwas Anständiges zu machen. Merkwürdig war nur, dass es
kein Polizeiwagen war, der unten vor dem Haus stand.
Ein Wartburg.
Martha starrte auf den Boden und wartete darauf, dass der ungewöhnliche Besuch
wieder ging. Um Mitternacht war alles zu spät. Die ganze lange Woche würde sie
warten müssen, bis zum nächsten Sonntag.
Eine Tür
wurde vorsichtig ins Schloss gedrückt, leise Schritte entfernten sich. Martha
wartete. Nach ein paar Minuten begann sie sich zu fragen, warum das Auto nicht
wegfuhr. Was machte Trenkner so lange? Vielleicht war sie mit dem Mann noch ins
Büro gegangen, Papierkram erledigen. Einweisungsprotokolle unterschreiben. Das
konnte man auch noch am nächsten Tag. Dann, wenn das neue Kind den anderen
vorgestellt und eingewiesen wurde.
Dein
Schrank, dein Bett, deine Kleider, deine Schuhe. Hier die Schulsachen, da die
Kittel. Und ordentlich. Im Kinderkollektiv ist kein Platz für Unordnung. Genau
wie im Leben. Kindheit ist Lernzeit. Auch du wirst verstehen, was das heißt.
Trenkner
hatte eine kräftige Stimme. Ihre ungewöhnliche Größe schüchterte die meisten
ein. Aber sie hatte noch ganz andere Methoden, von denen der Keller eine der
harmlosesten war. Martha war kein Freund von Schlägen. Sie hatte studiert, weil
sie Pestalozzi mochte, Korczak, Blonskij, Suchomlinski und natürlich
Makarenko, und, ja, auch Kinder. Brave Kinder. Vom Weg abgekommene Kinder. Verirrte
Kinder. Kinder, denen sie eine Chance geben konnte, doch noch Teil der großen
Gemeinschaft zu werden. Zwanzig Jahre später war sie eine Frau von Mitte
vierzig, die viele Illusionen verloren und nur den Verlust von einigen wenigen
wirklich bedauert hatte. Es war eine bittere Erkenntnis, dass man ein Kind
mögen konnte. Vielleicht auch zwei, drei, ein Dutzend. Aber niemals
zweihundertdreiundzwanzig. Die bekam man nur mit festen Strukturen und der konsequenten
Einhaltung von Regeln in den Griff.
»Mama?«
Die Stimme
war leise und angsterfüllt. Sie klang so nahe, weil das Haus still war. »Mama!«
Martha
sprang aus dem Bett und öffnete die Tür. Das Mädchen trug nur einen Schuh. Die
fast weißblonden Locken fielen ihm wirr ins Gesicht, und über ein kurzes Sommerkleidchen
hatte es eine dünne Strickjacke gezogen, ganz eng um die mageren Schultern.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte es die Erzieherin an. Es sah anders aus
als die anderen Kinder, die hier ankamen. Vielleicht lag es an der Haltung -
nicht gedemütigt, sondern eher zu Tode erschreckt, vielleicht auch an der Art
der Kleidung, die gepflegter wirkte als das, was bei Asozialen üblich war. Sie
erinnerte Martha an die Rauschgoldengel aus dem Erzgebirge, die in einer Kiste
im Keller lagen, seit sie Ostern und Pfingsten abgeschafft hatten und statt
Weihnachten das sozialistische Friedensfest gefeiert wurde.
»Ich will
zu meiner Mama.« Tränen liefen die Wangen hinunter. Die Unterlippe des Kindes
bebte.
»Still!«
Sie ging
auf das Mädchen zu. Es wich zurück und presste die Strickjacke noch fester an
die Brust. »Geh wieder ins Bett.«
Es
schüttelte trotzig den Kopf. Mit einem ärgerlichen Seufzer ging Martha in die
Knie, um auf Augenhöhe mit dem Kind zu sein. Das machte sie selten, weil es
nicht gut war bei ihrem Bluthochdruck. Aber das Kind sah aus, als würde es
jeden Moment die letzte Beherrschung verlieren. Es schwankte, als ob es sich
kaum auf den Beinen halten könne und gegen eine bleierne Müdigkeit ankämpfte.
Es war
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