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Herrmann, Elisabeth

Herrmann, Elisabeth

Titel: Herrmann, Elisabeth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zeugin der Toten
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wäre. Letzten Endes lief es darauf hinaus, wo noch
Platz war. Martha hätte gerne auf dieses Kind verzichtet. Der Bericht des
Vorsitzenden des Jugendhilfeausschusses klang nach mehr als schwererziehbar.
Das bedeutete in der Praxis: harte Herangehensweise und Unruhe in der Gruppe.
Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Trenkner sie auf dem Kieker hatte. Denn es
war Trenkner und nicht die Heimleiterin, die schließlich entschied, dass
Kepler, Judith die Nummer III/052 erhielt - Haus drei, Kind 52,
verantwortliche Erzieherin: Martha Jonas.
    »Das
Mädchen da oben ...«, begann Martha, doch sie wurde von dem Mann unterbrochen.
    »Das
Mädchen da oben ist wiederholt ausgebüxt. Es stand unter Ihrer
Aufsichtspflicht. Wie können Sie sich erklären, dass wir Judith mitten in der
Nacht in Mukran aufgegriffen haben?«
    »Judith?«
    Judith war
ein braunhaariges, stämmiges Kind mit Stupsnase. Sie hatte
Sprachschwierigkeiten, stammelte oft, wirkte teilnahmslos und geistig wie
körperlich retardiert. Aber sie hatte in den sechs Wochen, die sie hier
verbracht hatte, erstaunliche Fortschritte gemacht. Essgewohnheiten und
Tischsitten hatten sich deutlich verbessert. Die Körperhygiene war dank
penibelster Kontrolle mittlerweile im durchschnittlichen Bereich. Den
normwidrigen Umgangston hatte ihr Trenkner mit ihrer speziellen »Trinkkur«
abgewöhnt: Seifenlauge. Es waren nicht gerade die reformpädagogischen
Grundsätze, von denen Martha einmal geträumt hatte, aber sie brachten Zucht
und Ordnung ins Leben der Kinder. Nach einer sehr kurzen Eingewöhnungsphase
hatte Judith sich problemlos ins Kinderkollektiv eingefügt. Sie hatte das
Gelände ausschließlich in der Gruppe und beaufsichtigt verlassen. Weggelaufen
war sie noch nie. Judith war ein Kind, das sich unterordnete. Keins, das sich
auflehnte, so wie das Mädchen oben im Schlafsaal.
    Der Mann
setzte sich lässig auf die Schreibtischkante. Martha wunderte sich, dass
Trenkner das zuließ. Er wirkte ruhig und gelassen. Nur das minimale Wippen
seiner Fußspitze verriet ihn.
    »Wo waren
Sie heute Abend um 22 Uhr?«
    »In meinem
Zimmer. Ich hatte vorher meine Runde gemacht und nachgesehen, ob auch alle in
den Betten liegen und schlafen.«
    »Wann wäre
die nächste Runde fällig gewesen?« Sie schwieg.
    »Hören Sie
schlecht? Die nächste Runde?«
    »23 Uhr«,
sagte sie leise. Wieder spürte sie, wie die Hitze langsam in ihrem Körper
aufstieg.
    »Haben Sie
Ihren Rundgang vorschriftsmäßig um 23 Uhr durchgeführt?«
    Es war
eine rhetorische Frage. Der Mann kannte die Antwort. Langsam schüttelte sie
den Kopf.
    »Und wo
waren Sie stattdessen?«
    Trenkner
lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. In dem ältlichen
Gesicht mit dem zusammengekniffenen Mund war nicht das kleinste Zeichen von
Mitgefühl zu entdecken.
    »In ...
meinem Zimmer.«
    Der Mann
wechselte einen Blick mit der Heimleiterin. Martha spürte, wie ihr die Kehle
eng wurde. Sie wissen es.
    »Sie sind
jeden Sonntagabend zwischen 22 und null Uhr in Ihrem Zimmer. Was tun Sie da?«
    »Ich
lese.«
    »Und?«
    »Ich
wasche meine Wäsche. Die feine, meine ich.«
    »Und?«
    Martha sah
auf die Spitzen ihrer Hausschuhe. »Ich höre Radio.«
    »Welchen
Sender?«
    »DT 64.
Stimme der DDR. Und im Sommer die Ferienwelle.«
    »Schauen
Sie sich das hier mal an.«
    Er griff
in seine Jackentasche und streckte ihr einen geöffneten, mit Quartalsstempeln
übersäten Ausweis an einem Lederband entgegen. Einen Moment wurde ihr
schwindlig, sie fühlte sich, als würde sie ins Bodenlose fallen.
    Er steckte
den Ausweis wieder ein. »Also noch mal. Welche Sender?«
    »DT 64«,
flüsterte Martha.
    Sie konnte
spüren, was der Mann davon hielt, dass die etwas füllige, nicht mehr ganz junge
Frau vor ihm ausgerechnet die Jugendwelle des Staatsrundfunks hörte. Das klang
so unwahrscheinlich, dass sie gleich die nächste, ebenso durchschaubare Lüge
hinterherschob.
    »Und
Stimme der DDR.« Die hörte erst recht keiner freiwillig.
    »Ich bitte
Sie. Dafür hätten Sie ohne weiteres die Hausempfänger benutzen können.«
    Auf dem
Fensterbrett stand einer dieser kleinen Holzkästen mit fünf Stationstasten und
Strichen auf der Skala, damit auch ja keiner versehentlich den falschen Sender
erwischte. Der Mann sah zu Trenkner, die wie ein steinernes Monument der
Unbarmherzigkeit hinter dem Schreibtisch thronte. Honecker hing im Halbdunkel
an der Wand und beobachtete sie. Immer und überall. Martha spürte, wie das Blut
in ihren Ohren

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