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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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Erinnerung an das kleine, vormoderne, halbzivilisierte, gewalttätige, schmutzige Land im Norden Afrikas, von dem sie hoffte, es in wenigen Stunden für immer verlassen zu haben.
    Die Wahrscheinlichkeit, dass der namenlose Mann noch immer am Leben war, war nahe null. Schon bei ihrem letzten Besuch hatte er keinen guten Eindruck gemacht. Noch einmal sechsunddreißig Stunden waren seitdem vergangen, und man musste kein Pessimist sein, um vorherzusagen, dass sich die Wasseroberfläche über ihm für immer geschlossen hatte.
    Der Flughafenlautsprecher rief Mr. und Mrs. Wells zum Abfertigungsschalter der Air France. Helen schaute durchs Panoramafenster und entdeckte im Gewimmel der weißen, blauen und sandfarbenen arabischen Häuser rings um den Flughafen ein Neonschild, das ihre Aufmerksamkeit fesselte.
    Sie sah auf die Uhr, rief den Kellner und zahlte. Dann ging sie zu ihrem Gepäckschließfach und schaute sich über die Schulter nach Passanten um. Unauffällig nahm sie zwei schwere Gegenstände aus ihrer Reisetasche und schob sie im Innern des Schließfachs in eine Plastiktüte. Mit der Plastiktüte verließ sie das Flughafengebäude, überquerte die Straße und blieb vor dem Haus mit dem Neonschild stehen. Es war ein Autoverleih.
    Der günstigste Mietwagen war ein sandfarbener R4 mit Revolverschaltung. Helen würgte ihn einige Male ab, bevor sie aus dem dichten Verkehr heraus auf die Piste nach Tindirma kam. Sie trat das Gaspedal voll durch. Der Anblick der beiden sich küssenden Ziegelkamele bedrückte sie wie der Blick in eine Kiste mit staubigen Jugenderinnerungen.
    Was genau zu tun sie beabsichtigte – falls sie überhaupt etwas beabsichtigte –, wusste sie selbst noch nicht. Der Auftrag war abgeschlossen. Man hatte nichts Entscheidendes herausgefunden, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit sichergestellt, dass eine Übergabe der Pläne nicht erfolgt war. Nach Schilderung der vielfältigen Komplikationen hatte die Zentrale in der Nacht den Rückzug angeordnet, und man hatte das Problem, wie es nun hieß, in den Bergen sich selbst überlassen. Freilassen konnte man den Mann nicht.
    Was also wollte sie noch? Sie parkte den Wagen an der bekannten Stelle, stieg über den Grat und sah auf der gegenüberliegenden Seite des Berges den Stolleneingang, das Windrad und die Fässer. Die Hütte sah sie nicht. Nur einen tiefschwarzen Fleck. Während sie durch das Tal ging, wehte ihr schwacher Brandgeruch entgegen.
    Sie nahm die Waffe aus der Tüte, schwenkte die Trommel heraus, hielt ihren Finger in den Rahmen, schaute durch den Lauf, schob die Trommel zurück, steckte sich Waffe und Taschenlampe in den Gürtel und erstieg vorsichtig das kleine Felsplateau.
    Die verkohlten Balken der Hütte waren zu einem Haufen zusammengefallen. In der Mitte rauchte es schwach. Helen sah sich um. Die einzige Erklärung, die ihr einfiel, war, dass Cockcroft und Carthage versucht hatten, Spuren zu beseitigen. Sie waren die Letzten vor Ort gewesen. Aber sehr wahrscheinlich erschien ihr das nicht. Sie spannte den Hahn.
    Es war ein schwüler, wolkenverhangener Spätnachmittag, und ihr graute ein wenig vor dem Abstieg in der Dämmerung – wegen der Dämmerung. Zwar war es im Grunde gleichgültig, zu welcher Tageszeit man in stockdunkle Höhlen hinabstieg, ob am Tag, in der Dämmerung oder bei Nacht; aber die Vorstellung, dass Finsternis sich über das Land senkte, während sie im Dunkeln unter der Erde umherging, und dass sie nicht ins Licht zurückkommen würde, sondern in sternenlose Nacht, eine Nacht wie unter tiefster Erde, beunruhigte sie auf eine Weise, dass auch ein sehr viel einfältigerer Mensch als Helen sich zu fragen begonnen hätte, ob hier nicht Scham- und Schuldgefühle in harmlosen Landschaften und Lichtverhältnissen Verstecken spielten.
    «Unsinn», sagte sie zu sich selbst und folgte dem künstlichen Lichtstrahl in den Stollen hinab. Ab und zu schwenkte sie die Seitenwände ab, um die Markierungen der rußigen Handflächen zu studieren, und Schritt für Schritt legte sich ihre Aufregung. Schon vor dem Eintritt in die unterste Höhle rief sie Carls Namen. Keine Antwort. Nur Dunkel und Stille und der brackige Geruch des Tümpels.
    Fast das Erste, was sich im Scheinwerferkegel verfing, war ein schlammiges, verknotetes Kleiderbündel, das auf dem Bolzenschneider auf den Felsen lag, umgeben von einem Kreis von Feuchtigkeit. Helen wusste sofort, was hier versucht worden – und Versuch geblieben – war.
    Fast eine Minute lang stand

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