Herrndorf, Wolfgang - Sand
über denen Fledermäuse kreisen. Der Künstler verstarb 1979 an einer Lungenentzündung.
Polidorio schließlich war, wie wir uns erinnern, an einem Samstagmorgen des Jahres 72 mit seinem Mercedes in Richtung Tindirma aufgebrochen und galt seitdem als verschollen. Ein Foto von ihm hing eine Weile lang überall in Targat und Tindirma und nach einiger Zeit nur noch in Targat und schließlich nur noch im dortigen Polizeipräsidium. 1983 wurde er für tot erklärt, und diese Erklärung ist bis heute nicht angefochten worden.
In einem Brief schrieb Heather Gliese mir, ihre Mutter habe ein glückliches und erfülltes Leben geführt und sei rüstig, bei guter Gesundheit und wenige Tage vor ihrem zweiundsiebzigsten Geburtstag sanft entschlafen. Sie hinterlasse vier Enkel, ihre Bibliothek umfasse achttausend Bände in mehreren Sprachen, und ein immer wiederkehrender Albtraum, der sie in ihren mittleren Jahren eine Weile lang beunruhigt hatte bis hin zu einer unangenehmen Form der Schlaflosigkeit, sei zuletzt von selbst wieder verschwunden, ohne die Hilfe eines Therapeuten.
Mit einigen harmonischen Akkorden könnte man das Buch also ausklingen lassen. Ein kurzes Landschaftspanorama vielleicht noch, ein Kameraschwenk über den gezackten Schattenriss des Kangeeri-Gebirges vor abendlicher Dämmerung, in rosa und lila Dunst getauchte Täler, Schluchten voller purpurnem Schatten, ein paar Fledermäuse, ein malerisches Maultier. Ry Cooder spielt Gitarre. Von links wandert ein Windrad ins Bild.
Man könnte allerdings auch, wenn man ganz furchtlos ist und sich in der richtigen Stimmung befindet, noch einen Blick zurück auf eine nicht ganz unwesentliche Figur dieser Geschichte werfen, auf einen Mann, dessen verworrenes Schicksal uns eine Weile lang in Atem gehalten hat, einen Mann, der weder willentlich noch zufällig unter die Räder des Schicksals geriet, sondern einzig und allein durch eine falsche logische Schlussfolgerung; durch den Glauben an die Unschuld eines Schuldigen. Auf einen Mann mit Gedächtnisverlust.
Wollen wir das? Ein kurzer Blick zum Kameraassistenten, flüchtiges Schulterzucken beiderseits, und schon zoomt die Kamera die Öffnung eines Bergwerksstollens heran, die als winziger Punkt auf der gegenüberliegenden Bergflanke zu erkennen war, nun rasch größer wird, dunkler wird, bis sie die ganze Leinwand einnimmt und wir mit einer Mischung aus rasender Kamerafahrt und komplizierter Tricktechnik tief in das Innere des Berges hineinfliegen.
Hätten wir ein Nachtsichtgerät zur Verfügung, könnten wir nun grün flirrende Schattenbilder eines schlammigen Tümpels mit menschlicher Gestalt erkennen. Um den Tümpel herumfahrend zeigte das schwankende Bild uns den verkrampften Oberkörper von allen Seiten, zeigte den seit vielen Stunden schon verzweifelt mit dem Durst und dem Schlaf und dem Tod ringenden Mann. Dann ein rascher Schnitt auf das von aller Hoffnung verlassene Gesicht. Mit der bekannten Mischung aus Voyeurismus und Empathie könnten wir das Leiden dieses Menschen vorführen, könnten ihm zusehen bis zu seinem endgültigen Tod oder seiner sich aus den bisher bekannten Umständen nicht schlüssig ergebenden Rettung.
Wir könnten allerdings auch einräumen, dass wir über ein solches Nachtsichtgerät nicht verfügen. Und verfügten wir darüber, was nützte es uns in Wahrheit? Es ist dunkel in der Höhle, so dunkel, dass nicht ein Schimmer von Restlicht, der auf irgendeine technische Weise verstärkt werden könnte, in die Tiefen dieses Berges hinabdringt. Vollkommene, alles durchdringende, undurchdringliche Finsternis umgibt uns, sodass wir den Leser bitten müssen, sich das Folgende allein in seiner Phantasie vorzustellen.
SCHÖNE ERINNERUNGEN
The ball I threw while playing in the park
Has not yet reached the ground.
Dylan Thomas
Carl stützte sich auf den linken Ellenbogen. Er stützte sich auf den rechten Ellenbogen. Er erinnerte sich, wie er einmal hinausgeschwommen war, im frühen Morgenlicht, in den grauen Ozean hinein. Es musste der Atlantik gewesen sein oder ein anderes großes Meer. Um ihn herum war gelber Nebel, der dichter geworden war über dem Wasser, nichts als gelber Nebel, das Ufer war lange verschwunden. Er hatte nicht wirklich die Orientierung verloren, aber eine abstrakte, namenlose Angst war plötzlich in ihm aufgestiegen. Allein auf dem Meer und mit nichts Greifbarem um sich herum und nichts unter sich als bodenlosem Wasser, in einer Welt ohne Formen, eingehüllt in gelbe
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