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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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zitternd versuchte er, den Pullover von der Eisenkette zurück über seinen Oberkörper zu streifen. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es ihm endlich, in den nassen Klumpen hineinzukriechen und ihn sich über den Kopf zu zerren.
    Die Geräusche verstummten für einen Moment, und ein Gedanke torkelte klumpfüßig auf ihn zu: Wenn man sich dieses Stück Stoff über den Kopf stülpen konnte – konnte man es dann nicht auch weiter über den Körper hinab und bis zu den Füßen herabziehen? Er wagte die Frage im Dunkeln nicht zu beantworten. Sein räumliches Denkvermögen hatte ausgesetzt.
    Er sah sich selbst wie eine Comicfigur am Hals mit einem riesigen Gewicht verbunden, das die Form und Größe der Erdkugel hatte. Zu dieser Seite hin ging es nicht. Aber zur anderen? Durch wie viele der zwei bis vier Öffnungen, aus denen ein Pullover seiner Meinung nach bestand, musste der taube, aufgequollene Fleischklumpen, der er selbst war, hindurch, bis der Stoff zur Verfügung stand? Er wusste es nicht. Er konnte es nur ausprobieren.
    Unter Wasser liegend schob er einen Arm am Hals entlang hoch. Das ging ganz leicht. Aber schon beim zweiten Arm gab es Probleme. Kurz vor dem Ellenbogen blieb er in der Halsöffnung stecken. So unzerreißbar der Pullover war, so unelastisch war er auch. Carl versuchte, sich wieder freizumachen, aber nun konnte er weder vor noch zurück. In seiner Zwangsjacke sank er in den Schlamm, zappelnd wie ein Fisch an Land. Er schnappte nach Luft. Er tauchte. Und auf einmal kam der andere Ellenbogen an seinem Gesicht vorbeigeschossen. Prustend wälzte er sich hoch. Beide Arme hingen ihm zusammengebunden über dem Kopf, und die Unterarme führten ein verzweifeltes Ballett auf, als versuche er, pantomimisch einen Hasen darzustellen. Er tobte. Er kippte um. Dann ruckte der Pullover auf seine Brust und nahm ihm den Atem. In einem letzten Kraftakt zerrte er sich das Kleidungsstück noch unter Wasser auf die Hüfte hinunter. Und der Rest war einfach. Mit dem Pullover in Händen blieb er eine Minute liegen und versuchte, sich zu entspannen.
    Dann suchte er nach seiner Hose, um sie an den Pullover zu knoten, aber die Hose war verschwunden. Drei-, viermal kroch Carl auf den Ellenbogen um die Eisenstange herum, ohne die Hose zu finden, und als er sie endlich gefunden hatte, war das Gewicht darin verschwunden, und der Knoten hatte sich gelöst.
    Er machte einen neuen Knoten und stellte fest, wie kurz sein Wurfgerät nun geworden war. Er löste den Knoten, machte ihn weiter am Rand noch einmal, aber es war immer noch zu kurz. Stöhnend tastete er von einem Ende zum anderen, und es wurde immer rätselhafter. Von der Hose schien etwas zu fehlen, und in der Mitte hing schlaff ein großer Lappen. Allein das Herumwälzen auf der Hose konnte sie doch nicht zerrissen haben?
    Auf der Suche nach übersehenen Knoten, Knäueln oder Hosenbeinen ließ er den Stoff Stück für Stück durch seine Hände gleiten. Aber er konnte nichts weiter ertasten. Er glaubte, den Verstand verloren zu haben. Er trommelte auf seine blinden Augen. Und erst, als er sich den Stoff aufs Gesicht drückte und mit der Zunge darüber fuhr, spürte er, was er mit den tauben Händen schon lange nicht mehr spüren konnte, dass es kein Hosenstoff war, sondern etwas Gestricktes. Der Pullover. Er hatte die ganze Zeit seinen Pullover untersucht.
    «Jetzt mal der Reihe nach», sagte er halblaut zu sich selbst, und weil der Klang seiner eigenen Stimme einen beruhigenden Eindruck auf ihn machte, den Eindruck einer übergeordneten Vernunft, die deutlich weniger angegriffen wirkte als seine eigene, setzte er sein Selbstgespräch noch lauter fort.
    «Legen wir erst mal den Pullover hierhin», sagte er und legte sich den Pullover auf die Schulter. Dann tastete er die Umgebung ab. Er konnte die Hose aber noch immer nicht finden und sagte: «Kein Problem. Gar kein Problem. Wenn sie hier nicht ist, dann ist sie hier. Oder hier. Oder hier.»
    Er legte sich so flach wie möglich auf den Bauch, spannte die Kette und grapschte mit beiden Händen vor sich im Schlamm herum. Er tauchte unter und machte Schwimmbewegungen.
    «Jetzt nicht in Panik geraten», sagte er. Er streckte ein Bein nach vorn und kroch, den Fuß wie einen Haken herumzirkelnd, einmal ganz um die Eisenstange. Tatsächlich verfing sich ein langes Stück Stoff an seinem Knöchel, und sofort vergewisserte er sich, dass der Pullover noch auf seiner Schulter lag. Er lag noch da.
    «Bestens», sagte er, «alles

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