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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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so spät in der Nacht aufzusuchen», sagte er kopfschüttelnd.
    Schon etwas weniger selbstsicher wandte er sich um und versuchte es mit einer Tür auf der anderen Seite. Diesmal machte er keine Vorhersage, was der Raum dahinter enthalten werde. Vier Neonröhren flackerten auf und erhellten ein fast gänzlich ausgeräumtes Zimmer. Die Wände waren strahlend weiß, farbbespritzte Zeitungen bedeckten den Fußboden, es roch nach Lösungsmittel. Ein weißer Plastikeimer lag umgekippt auf der Seite. In der Mitte des Raumes stand ein ebenfalls mit Zeitungen bedeckter Tisch auf vier schlanken, runden Beinen, die in spitze Messingfüße ausliefen. Bei einem Bein war der Fuß abgebrochen, ein dünnes und ein dickes Buch lagen darunter.
    «Ihre Bibliothek?», fragte Carl.
    Dr. Cockcroft schlug sich vor die Stirn wie ein Darsteller im Bauerntheater und rief: «Ganz vergessen! Die Handwerker waren ja heute da.»
    Er bückte sich nach den beiden Büchern, warf einen raschen Blick darauf und hielt sie Carl mit einem triumphierenden Lächeln entgegen. Ein schmales, in graues Packpapier eingeschlagenes Bändchen und ein voluminöses Werk in blauem Leinen.
    «Fachliteratur aus dem Mutterland der Psychoanalyse!»
    «Auf Deutsch?»
    «Und bevor Sie fragen: Ich kann die nicht lesen. Das sind nicht meine. Die sind von meinem verschollenen Vorgänger …»
    Carl nahm das dünne Buch und drehte es hin und her. Auf dem grauen Packpapier war mit Bleistift geschrieben: Albert Eulenburg SUM I.
    «… von dem ich die Praxis übernommen habe. Die Praxis, die Patienten und die Bibliothek. Nur seine Frau hat er unverständlicherweise mitgenommen. Und nein!» Er wedelte die Luft zwischen sich und Carl betrunken zur Seite. «Da machen Sie sich keine Hoffnungen! Der ist nach Europa zurück. Höchstwahrscheinlich. War ja Österreicher. Und außerdem, wenn Sie Psychiater wären, das hätten wir doch gemerkt, nicht wahr?»
    «Ja», sagte Carl, obwohl er «nein» dachte, und schlug das dünne Buch auf. Sein Blick fiel als Erstes auf ein Gedicht in Frakturschrift.
    Ich habe so viele Gedanken, Und pervers bin ich außerdem; Ich bin in der Tat für alle ein ungelöstes Problem!
    «Können Sie das lesen?», fragte Dr. Cockcroft.
    «Bitte?»
    «Ob Sie das lesen können.»
    «Ja», sagte Carl verwirrt. Er nahm ein Bündel Seiten in die Hand und blätterte es durch. Ein Sachbuch mit vielen langen, schwierigen Sätzen. Das Gedicht war die Ausnahme. Bilder enthielt es nicht. Und alles in Fraktur.
    «Das haben Sie gar nicht gesagt, dass Sie Deutsch können.»
    «Ich wusste es auch nicht. Und ich kann’s auch … nur so halb.»
    «Diese komischen Buchstaben. Was steht denn drin?»
    «Es handelt von Frauen.»
    «Und löst das Gefühle bei Ihnen aus? Die Sprache, meine ich.»
    Carl starrte ins Buch und bewegte stumm die Lippen. «Nein. Das ist mir zu kompliziert. Ich versteh die meisten Worte, aber mehr auch nicht. Meine Muttersprache ist das nicht.»
    «Und was haben Sie verstanden?»
    «Dass Frauen nicht grausam sind. Sexuell gesehen. Dass Männer sich das nur einbilden.»
    «Das entspricht dem Stand der Wissenschaft», sagte Dr. Cockcroft nachdenklich. Er nahm Carl das Buch aus der Hand, um selbst einen Blick auf die rätselhafte Schrift zu werfen. Mitten in der Bewegung erstarrte er, als habe er in einer dunklen Ecke des Zimmers eine Ratte erspäht, und stürzte dorthin. Mit triumphierender Geste hob er einen weißen Kittel in die Höhe und schwenkte ihn wie ein Soldat die siegreiche Fahne. Es hätte ein Arztkittel sein können; übersät von Farbspritzern hatte er jedoch mehr Ähnlichkeit mit einem Malerumhang.
    Carl nahm das andere Buch zur Hand und blätterte, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass der den Kittel flügelschlagend anprobierende und sich in den Ärmeln verheddernde Arzt ihn nicht aus den Augen lassen würde, energisch darin herum. Es war ebenfalls ein deutsches Buch, ein Lexikon, der Brockhaus von 1953, erschienen in Wiesbaden, Band A-M.
    Minderwertigkeitsgefühl, Mindestgebot, Mindoro, Mindszenty … Mine. Er überflog den Lexikonartikel einmal, zweimal und versuchte, sich den Inhalt einzuprägen.
    Mine [franz.], allgem.: Sprengladung, die geballt oder in einem Gefäß verwendet wird. 1) Landminen dienen zu Sperren; sie werden durch Berühren (Tret-, Flatter-, Tellerminen) oder elektrisch entzündet. Minenfelder sind unregelmäßig verlegte M. im Gelände, bes. als Schutz gegen Panzerangriffe. 2) Wurfmine, das Geschoß des Minenwerfers.

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