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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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auf die kahlen Wände, den Notizblock und den Tisch. Mit der Hand schirmte er die Augen ab, um besser nachdenken zu können. Er hörte, wie Dr. Cockcroft sich noch einen Bourbon einschenkte. Irgendetwas an der Beweisführung des Psychiaters kam ihm unlogisch vor. Und es irritierte ihn immer nachdrücklicher, dass Dr. Cockcroft sich fast noch mehr als für die Vorgänge in seiner Psyche für den Ablauf des Geschehens in der Wüste zu interessieren schien. Oder täuschte er sich? Er versuchte, sich den Arzt in einer weißen Dschellabah vorzustellen.
    «Es tut mir leid», sagte Dr. Cockcroft. «Sie wollten eine Diagnose von mir. Das ist sie.»
    Der die Arme verschränkende Arzt. Die kahlen Möbel. Das Fußballspiel.
    «Sind Sie ganz sicher», sagte Dr. Cockcroft und beugte sich vor, «dass Sie mir nichts verschweigen?»
    «Und Sie sind ganz sicher, dass Sie Psychiater sind?»
    «Haben Sie da irgendwelche Zweifel?»
    «Wenn Sie behaupten, ich bin ein Simulant, wenn Sie da ganz sicher sind – bin ich ebenso sicher, dass Sie kein Arzt sind.»
    Dr. Cockcroft antwortete nicht.
    «Warum stellen Sie zum Beispiel die ganze Zeit Fragen, die mit der Amnesie nichts zu tun haben? Warum sieht es hier aus wie … wie …»
    «Was für Fragen?»
    «Was sollte zum Beispiel die Frage nach dem Alkohol?»
    «Haben Sie das schon vergessen?»
    «Nein. Und ich habe auch nicht vergessen, dass Sie sagten: Der Korsakow redet keinen Hauptsatz mit Nebensatz mehr. Da wäre das Hirn völlig weg. Also wozu noch die Fragerei? Wozu, wenn es doch offensichtlich ist, dass ich –»
    «Können Sie sich das nicht denken?»
    «Nein, kann ich nicht!» Carl sprang auf und setzte sich wieder. «Kann ich nicht. Oder stellen Quartalssäufer ihren Alkohol neuerdings selber her?»
    Dr. Cockcrofts beschwichtigende Handbewegungen signalisierten, dass er zumindest die Erregung seines Patienten für glaubwürdig zu halten bereit war.
    «Vertrauen», sagte er. «Bitte bleiben Sie ruhig. Vertrauen ist das Wichtigste. Ich habe mich deshalb so ausführlich danach erkundigt, weil wir ja unter anderem nach Ihrer Identität suchen, falls Sie das vergessen haben. Und wenn einer blutüberströmt und mit eingeschlagenem Schädel in der Wüste inmitten von Apparaturen zur Alkoholherstellung zu sich kommt, ist der Verdacht, er könne der Schwarzbrenner sein, der da sein Labor hat – doch recht naheliegend, nicht wahr?» Dr. Cockcroft wog einen imaginären Trichter in seinen Händen und führte dann die Fingerspitzen zusammen. «Nur dass wir das jetzt ausschließen können. Was Sie wissen über Alkohol und seine Herstellung, ist das, was jeder weiß. Und das ist nicht viel.»
    «Und der Geschlechtsverkehr?»
    «Pardon?»
    «Warum wollten Sie wissen, ob ich mit Helen Geschlechtsverkehr –»
    «Routine», sagte Dr. Cockcroft. «Reine Routine. Ein Test, ob Sie bereit sind, ehrlich zu antworten.»
    «Das glaube ich nicht.»
    «Wieso glauben Sie das nicht?»
    «Kein seriöser Arzt würde so etwas fragen. Er würde etwas anderes fragen.»
    «Woher wissen Sie, was ein seriöser Arzt fragt und was nicht?»
    «War mein Funktionswissen nicht unangetastet?»
    «Schön, dass Sie sich daran erinnern. Weniger schön, dass Sie hier –»
    «Sie sind kein Arzt.»
    «Sie zweifeln wirklich? Und seit wann, wenn ich fragen darf?»
    «Schon seit ich hier reingekommen bin. Die ganze Zeit. Schon seit ich Ihren Zettel gesehen habe.»
    «Welchen Zettel?»
    «Schnupperpreise.»
    «Was haben Sie daran auszusetzen?»
    «Kein normaler Arzt würde Schnupperpreise schreiben. Wegen Neueröffnung. Und so sieht auch keine Arztpraxis aus. Warum läuft die ganze Zeit der Fernseher? Wo sind Ihre … Geräte? Und Sie haben keine Fachliteratur. Sie haben keinen Arztkittel. Sie haben –»
    «Keinen Arztkittel!» Dr. Cockcroft schien für einen Moment außer sich. «Und wenn ich einen Arztkittel anhätte, würden Sie meiner Diagnose Glauben schenken? Es tut mir leid, aber als Psychiater trägt man keinen … wobei ich tatsächlich einen besitze. Der müsste noch oben sein. Die Bibliothek mit der Fachliteratur ist ebenfalls oben. Und was den Fernseher betrifft, es tut mir leid, aber der Ausschaltknopf ist kaputt. Man muss sehr umständlich hinten den Stecker ziehen. Und wie Sie sich sicher erinnern, kommen Sie ganz und gar außerhalb meiner Sprechzeiten.»
    Dr. Cockcroft trat mit dem Fuß nach dem Fernseher. Ein Nachrichtensprecher flatterte schreckhaft, löste sich in Schlangenlinien auf und verlor den Kopf. Langsam

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