Herrndorf, Wolfgang - Sand
enemy more time and money to treat than dead soldiers.
Dokumentation über die belgische Waffenfabrik FN Herstal
Der Mann, der ganz hinten allein im Dunkel der Bar saß, hieß Risa, genannt Khach-Khach. Er hatte ein nervöses, aufgewecktes Gesicht, über das von der Stirn bis zum Kinn drei senkrechte Narben liefen. Er mochte zwanzig Jahre alt sein. Er war Linkshänder.
Im Alter von sechs Jahren hatte er mitangesehen, wie seine Eltern, seine Großeltern, vier Schwestern, ein Schwager und dessen sämtliche Verwandte, dazu zwei andere Tuareg-Familien, eine Handvoll Rebellen und einige Unbeteiligte in einer Reihe in den Wüstensand gelegt und angepflockt worden waren. Dann war ein Armeepanzer über ihre Körper gerollt, die wie Zahnpastatuben aufplatzten. Bis zum zehnten Lebensjahr wuchs Risa in einem Lager auf, nordöstlich des Leeren Viertels. Zwei Sommer lang besuchte er eine Armenschule, in der ein dicker Spanier kostenlosen Unterricht erteilte. Risa war der intelligenteste Schüler, den die Schule jemals gesehen hatte. Er lernte Lesen und Rechnen und kam zu einem Gerber in die Lehre. Die Werkstatt des Gerbers lag im Schatten der Müllberge, und eines Tages stand ein riesiger Schwarzer in bunten Gewändern und mit viel Goldschmuck an den Fingern in der Tür. Der Gerber kroch vor ihm auf dem Lehmboden, suchte alles Geld, das er hatte, zusammen und legte es ihm zu Füßen. Der Schwarze nahm das Geld, und er nahm auch Risa mit. Im Keller seiner prächtigen Villa quartierte er den Jungen ein. Er kaufte ihm Kleider und gab ihm zu essen. Ein Jahr lang lernte Risa den Umgang mit Geschäftsleuten und Waffen. Er machte Kurierdienste und besorgte die Buchhaltung. Mit dreizehn hatte er seinen ersten Menschen getötet.
Mittlerweile lebte er auf der kleinen Insel vor der Küste. Zweimal wöchentlich kam er aufs Festland, um Geschäfte abzuwickeln. Ein fetter goldener Ring, ein Erbe seines Ziehvaters, prangte an seiner rechten Hand. Risa blätterte durch eine Unterwäschestrecke in der amerikanischen Ausgabe der Vogue und blickte auch nicht auf, als ein etwas unsicher wirkender Mann ihn ansprach.
«Ich hab gehört, du verkaufst was?», fragte der Mann.
«Nein.»
«Du verkaufst nichts?»
«Verpiss dich.»
Unschlüssig sah Carl auf einen freien Stuhl am Tisch. Er wagte nicht, sich zu setzen.
«Jemand hat gesagt, du verkaufst was.»
«Kif dahinten.»
«Kein Kif.»
Risa hob den narbengesichtigen Kopf, streifte Carl flüchtig mit dem Blick und sah zum Ausgang, wo eben ein Halbwüchsiger verschwand. Er sah den Barmann an. Der Barmann zuckte die Schultern.
«Nur eine Information», sagte Carl unbeholfen.
«Was hab ich damit zu tun?»
«Jemand hat gesagt, du bist der Richtige.»
«Ich bin nicht der Richtige.»
«Ich dachte.»
«Du dachtest was?»
«Oder dass du vielleicht jemanden weißt, der was weiß.»
«Der was weiß?»
«Jemand, der mir eine Auskunft geben kann.»
Risa wartete einen Moment, ob die merkwürdige Erscheinung mit dem gelben Blazer und den lachsrosa Bermudas sich vielleicht von selbst in Luft auflösen würde, dann sagte er: «Ich kann dir die Auskunft geben, wie du noch genau zehn Sekunden lang lebend hier rauskommst.»
«Bitte.» Carl griff nach der Lehne des freien Stuhls und zog ihn ein paar Zentimeter in seine Richtung. «Ich bin schon den ganzen Tag unterwegs. Jemand hat gesagt, dass du –»
«Wer?»
«Ein Junge.»
«Was für ein Junge?»
«Ich weiß nicht … ein Junge. Er hat mich hergeführt.»
«Woher kanntest du den?»
«Ich kannte den nicht. Jemand hat mich an ihn verwiesen.»
«Wer?»
«Den kannte ich auch nicht.»
«Bist du von Westinghouse?»
«Nein.»
«Von El-Fellah?»
«Nein.»
«Du kommst allein hierher, dich hat niemand hergeschickt, und alles, was du willst, ist eine ‹Information›?»
«Recherche.»
«Dann verpiss dich.»
Risa wandte sich wieder den bunten Bildern zu. Unterwäsche, Unterwäsche, Lippenstift. Fünf Frauen auf einem Podest. Zwei Frauen auf einem Sofa. Zigaretten. Als er erneut aufblickte und den Mann unverändert dastehen sah, riss er mit einem Ruck die Faust hoch und ließ sie einige Sekunden unter Carls Kinn schweben. Carl zuckte nicht. Risas Mimik war nicht zu entnehmen, ob er vor Aggression kochte oder sich amüsierte, und gerade die Undurchschaubarkeit seiner Miene überzeugte Carl, dass dies der Mann war, den er suchte.
«Kann ich dir was zu trinken bestellen?»
Abendkleider und Mäntel, Unterwäsche, eine Frau mit zwei Doggen.
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