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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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zuckend kehrte der Kopf in die Bildmitte zurück bis auf ein Stück Schädel, das am rechten Bildrand kleben blieb.
    «Und ich kann Ihnen noch etwas verraten», sagte Dr. Cockcroft. «Ich weiß zwar nicht, ob ich Ihr Vertrauen damit zurückgewinne oder endgültig verliere – aber Sie haben natürlich recht. Es sieht hier nicht aus wie in einer Arztpraxis. Sie haben vermutlich keine Vorstellung davon, wie man hier seinen Lebensunterhalt verdient. Patienten wie Sie sind die absolute Ausnahme. Um ehrlich zu sein: Sie sind mein erster Patient, mein erster richtiger Patient.»
    Der Nachrichtensprecher stieß einen Stapel Papier auf den Schreibtisch, und Dr. Cockcroft stürzte seinen Whisky hinunter.
    «Aber das ist Afrika. Wie viele Psychiater, glauben Sie, praktizieren hier? In Kapstadt soll noch einer sein. Mit den Einheimischen können Sie nun mal keine Geschäfte machen. Die haben ihre eigenen Methoden. Ein bisschen trommeln, ein bisschen tanzen, ein bisschen singen: Das reicht in aller Regel für ihre sogenannten Probleme. Die afrikanische Seele steckt ja noch in den Kinderschuhen. Mit den Neurosengeflechten einer durchschnittlichen amerikanischen Hausfrau alles nicht vergleichbar. Und wenn Sie jetzt wissen wollen, womit ich mein Geld verdiene: hässliche Mütter mit großen Sonnenbrillen. Breithüftige Jünglinge aus gutem Hause. Touristinnen. Dafür ist das hier gemacht. Ein bisschen Erholungsurlaub, ein bisschen Stress am Strand, ein kleiner Ehebruch hier und da – ich ergänze mehr oder weniger den Freizeitbereich. Wenn das Ihre Fragen beantwortet. Meine Praxis gehört zum Hotel. Und alle zwei Wochen Schnupperpreise zur Neueröffnung – das hat sich als Konzept bewährt.»
    «Aber Sie sind … ein echter Psychologe?»
    «Psychiater. Studium in Princeton», sagte Dr. Cockcroft und begann, eine Reihe von Stationen und Universitäten herunterzurasseln, die Carl naturgemäß nichts sagten.
    «Und haben Sie ein Zeugnis? Irgendwas, was Sie als Arzt ausweist?»
    «Einen Arztkittel vielleicht?»
    Carl mochte weder nicken noch den Kopf schütteln.
    «Sie wollen meinen Arztkittel sehen?», setzte Dr. Cockcroft nach. Er lächelte. Kein verunsichertes Lächeln, eher ein lauerndes, interessiertes, als habe er gefragt: Sie wollen die Vagina Ihrer Mutter sehen?
    «Ja», sagte Carl tapfer.
    «Der ist oben. Wie gesagt. Glaube ich. Kann aber auch sein, der ist in der Reinigung.»
    «Oder ein Zeugnis. Oder Fachliteratur.»
    «Die Bücher sind auch oben. Wollen Sie nachschauen?» (Wollen Sie in die Vagina eindringen?)
    Carl vergrub seinen Kopf in beide Hände und knetete mit der gesunden seine Kopfhaut. Ungerührt beobachtete Dr. Cockcroft seinen Patienten.
    «Im Ernst», sagte Carl, «würde es Ihnen etwas ausmachen, mit mir hinaufzugehen und –»
    «Wenn Sie möchten. Wenn ich Ihr Vertrauen dadurch zurückgewinnen kann. Ohne Vertrauen zwischen Arzt und Patient ist jede Therapie zwecklos … nein, kein Problem.» Dr. Cockcroft hatte sich auf den Armlehnen seines Sessels einige Zentimeter hochgedrückt. «Ich zeige Ihnen gern meinen wunderschönen Arztkittel. Wünschen Sie das?»
    Seine ganze Haltung strömte eine solche Bereitschaft zur Kooperation aus, dass der Gang ins Obergeschoss dadurch schon überflüssig geworden war. Carl konnte nicht insistieren, ohne sich lächerlich zu machen. Er spürte das, und er spürte auch, dass das der geheime Zweck dieses herzlichen Entgegenkommens sein mochte, und so sagte er: «Ja. Ja, ich wünsche das.»
    Eine breite Holztreppe führte in den ersten Stock. Ihr schloss sich ein langer, dunkler Flur mit je vier oder fünf Türen rechts und links an. Carl ging zwei Schritte hinter Dr. Cockcroft; er roch die mittlerweile recht deutliche Alkoholfahne.
    «Meine Bibliothek», sagte der Arzt. Er war vor einer Tür stehen geblieben, öffnete sie schwungvoll und knipste das Licht an. Der Schein einer schwachen Glühbirne beleuchtete eine winzig kleine Kammer. Zwischen Staub und zerbröselten Ziegelsteinen lag ein abgebrochenes Waschbecken auf der Erde, zwei verrostete Rohre stachen aus der Wand.
    «Hoppla», sagte Dr. Cockcroft. Nonchalant zog er die Tür wieder zu, ging ein paar Schritte weiter den Gang hinunter und griff nach der nächsten Türklinke.
    «Meine Bibliothek!», sagte er. Er zog an der Klinke. Er zerrte. Die Tür war verschlossen.

    DIE BIBLIOTHEK
     
    Ed: «Night has fallen. And there’s nothin’ we can do about it.»
    John Boorman, Deliverance
     
    «Wirklich keine gute Idee, mich

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