Herrndorf, Wolfgang - Sand
Plastiktüten voller Lebensmittel im Arm zurückkam, meinte sie von irgendwoher Stimmen zu hören. Vorsichtig setzte sie die Einkäufe ab, ging leise um das Haus herum, kniete sich hinter eine die Ecke überwuchernde Bougainvillea und schob einen blühenden Zweig beiseite, um auf die Terrasse zu spähen.
Nur ein paar Meter von ihr entfernt hockte Carl im Schneidersitz auf dem Boden und betrachtete angestrengt etwas vor seinen Unterschenkeln. Ihm gegenüber in Rückenansicht eine langhaarige, breitschultrige Frau. Oder ein langhaariger Mann? Beide hatten sie die Köpfe tief gesenkt, und eine Helen wohlbekannte Stimme sagte: «Das ist der Turm. Da kommt jetzt quer drauf der Eremit. Und hier der Wagen, der Stern … den Stern find ich immer eine sehr schöne Karte. Der Stern im Unbewussten, das erklär ich gleich, was das bedeutet. Und auf der Fünf, das ist … der Hängende Mann», sagte Michelle und entfernte rasch die Karte und ersetzte sie durch eine andere.
Carl machte ein fragendes Gesicht. Offenbar war er mit dem Tausch nicht einverstanden, und Michelle, die versuchte, dem Blick seiner kohlenschwarzen Augen standzuhalten, spürte eine Welle schmerzlicher Empathie ihren Körper durchfluten. Sie wusste, was das bedeutete. Es bedeutete, dass sie auf der Hut sein musste.
Schon als dieser bildschöne Mann dem Legen der Karten ohne Zögern zugestimmt hatte, schon als er sie mit unsicheren Bewegungen auf die Terrasse gebeten und einen Kaffee angeboten hatte, nein, um ehrlich zu sein, schon als er mit blutfleckigem Kopfverband und einer abgeknickten Zigarette im Mundwinkel ihr die Tür des Bungalows 581 d geöffnet hatte, hatte die unaussprechliche Trauer in seinen Zügen sie überwältigt. Und zwar auf eine Weise überwältigt, dass Michelle Vanderbilt im selben Moment beschlossen hatte, sein Leben nicht an ihres heranzulassen. Solche Entscheidungen traf sie in Sekundenbruchteilen. Auch wenn nicht jeder es ihr zutraute und wenn sie, wie sie wusste, nach außen hin oft ganz anders wirkte: Michelle war eine sehr resolute Person. Willensstärke und Entschlussfreude hatte sie von ihrer italienischen Großmutter; von der sie auf der anderen Seite und im scheinbaren Widerspruch dazu auch das überbordende Temperament, die Spontaneität und die typisch italienische Herzlichkeit geerbt hatte. Kopfmensch und Bauchmensch in einem. Und wenn die Situation es erforderte, war Michelle eben entschieden. Und traf Entscheidungen. Und aus langer Erfahrung wusste sie auch, dass man durch den Dschungel der Komplexität am besten hindurchfand mit der Intuition. Und ihre Intuition sagte vom ersten Moment an: Vorsicht. Vorsicht angesichts eines bildschönen, leidenden Mannes mit malerischem Kopfverband und traurigen Augen, Vorsicht, Michelle Vanderbilt!
Aus einem kurzen Telefonat, das sie mit Helen direkt nach deren Besuch in der Kommune geführt hatte, wusste sie auch, wer dieser Mann war. Dies war der Mann, der eine Art Gedächtnisverlust erlitten hatte. Was bedeutete das?
Es bedeutete erstens, dass Helen mit großer Wahrscheinlichkeit und der für sie charakteristischen Wahllosigkeit eine geschlechtliche Beziehung eingegangen war, was der Mann mit dem provisorischen Namen Carl vorläufig bestritt. Vor wenigen Minuten noch bestritten hatte. Es bedeutete zweitens, dass, verglichen mit dem Schmerz, den Michelle zu tragen hatte, dem herausragenden Schmerz, kürzlich vier Freunde von sich in einem Massaker verloren zu haben, ein Amnestiker, der nichts weiter verloren hatte als seine Identität, ein vergleichsweise glücklicher Mensch sein musste. Und drittens, dass dieser vergleichsweise glückliche Mensch das Gefalle des Leidens von ihr zu ihm als einen Hebel zur Erlangung von Vorteilen (oder was auch immer) missbrauchen könnte oder würde, wenn er wollte. Und wenn sie, Michelle, es zuließe. Sie würde es aber nicht zulassen. Diese Entscheidung stand von der ersten Sekunde an fest. Und wenn eine Entscheidung feststand, dann änderte sich daran auch nichts mehr.
«Weil es sonst bedeutet, in dieser Kombination, also letztlich, wenn man es genau nimmt, mit dem Turm hier auf der Ausgangssituation und dem Tod», sagte Michelle, die eilig die restlichen Karten ausgelegt hatte und mit weit aufgerissenen Augen auf die entstandene Kombination starrte, «mit dem Tod in der nahen Zukunft … was normal ein transformatorischer Prozess ist, der Tod als Umwandlung, als Übergang … wobei wir … wenn wir, ich meine …»
Verwirrt beobachtete
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