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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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bestimmt schon zwanzigmal gelesen, aber in den Hintergründen gab es immer noch neue, wunderbare kleine Details zu entdecken. Ab und zu warf sie einen scheuen Blick nach nebenan, und als das Gespräch dort verebbt war und Carl ihren Blick wie zufällig einmal erwiderte, bot sie ihm auch eins von ihren Heftchen an. Zerstreut blätterte Carl es auf. Es hieß «Der Kampf der Häuptlinge».
    Auf der ersten Seite sah man die französische Landkarte mit einer in den Boden gerammten römischen Standarte und einer großen Lupe über der Bretagne; darunter ein von vier römischen Lagern umgebenes gallisches Dorf. Es kam Carl vage bekannt vor. Auch die Personenbeschreibungen auf der nächsten Seite kamen ihm vage bekannt vor.
    Während er versuchte, den Sinn der teils eiförmigen, teils runden und wolkenförmigen Sprechblasen zu verstehen, hörte er zwei Frauenstimmen hinter sich, eine bekannte und eine unbekannte. Er drehte sich nicht um. Er sah nur, dass Helen ihr Gesicht auf das Handtuch presste und die Arme um ihren Kopf schlang, wie um sich die Ohren zu verschließen.
    Die unbekannte Stimme redete mit hartem deutschem Akzent von Duisburg, Kohlebergbau und Kultur, die bekannte, Michelle gehörende, steuerte Adjektive bei.
    Die ersten Bildkästchen zeigten den Kontrast zwischen an die römische Zivilisation angepassten, leicht lächerlich wirkenden Galliern auf der einen und urwüchsigen, Wildschweinejagenden Prachtkerlen auf der anderen Seite. Ein Druide verlor seine Fähigkeit, Zaubertrank zu brauen, mitsamt seinem Gedächtnis durch einen Schlag auf den Kopf; und ein zweiter Druide namens Amnesix, der im Wald eine Art psychologischer Praxis betrieb und dem man die Krankengeschichte des Kollegen mit einem Hinkelstein zu erklären versuchte, verlor ebenfalls sein Gedächtnis.
    «Die Wirklichkeit ist ein Spiegel», sagte Michelles Stimme, «durch den deine Hand hindurchgreift.»
    Beide Druiden kannten nun nichts und niemanden wieder. Man stellte ihnen Kessel und Kräuter bereit, in der Hoffnung, sie würden sich unbewusst an ihre Zauberformeln erinnern, aber alle Tränke, die sie brauten, verursachten nur Gesichtsverfärbungen und kleinere Explosionen und ließen zuletzt einen römischen Legionär, der als Versuchskaninchen diente, wie einen Heliumballon davonfliegen. Ein dicker Gallier glaubte, den Gedächtnisverlust durch einen zweiten Schlag mit dem Hinkelstein kurieren zu können, ein Lämpchen leuchtete über seinem Kopf. Ein kleiner Gallier sprach drei wütende Ausrufezeichen.
    «… nur Akasha nicht. Aber meine vier besten Freunde, und die sind jetzt in einer besseren Welt, das weiß ich positiv. Wenn man lange in der Wüste gelebt hat, wird der Blick ein anderer.»
    Die überraschende Heilung bewirkte schließlich ein blassgrüner, unter blubbernden Inflektiven zusammengebrauter Trank, an zu Berge stehenden Haaren, rotierenden Augen und dampfenden Wölkchen vor den Ohren des Druiden auch für den ungeübten Leser erkennbar. Im Schlussbild ein Fest, ein Feuer und ein geknebelter Troubadour, und auch das kam Carl irgendwie vage bekannt vor. Er war verwirrt. Aber was ihn vielleicht am meisten verwirrte, war die Sekretärin des Druiden Amnesix. Sehr schlank, sehr schön und sehr blond, erschien sie Carl wie das genaue Abbild Helens. Er warf dem Original einen raschen Blick zu, dann schaute er von Helen zu Michelle, und da war noch jemand. Eine blasse, weibliche Person.
    Mit der ebenfalls von ihrer italienischen Großmutter stammenden Kontaktfreude hatte Michelle wenige Minuten zuvor die Bekanntschaft dieser deutschen Urlauberin gemacht, die sich sofort als überraschend vernünftig erwies. Die Deutsche trug einen grün-gelb gestreiften Badeanzug, radebrechte Englisch und arbeitete in einem Beruf, den sie selbst als «woman for everything« bezeichnete. Michelle zeigte ihr die Tarotkarten, sie sprach über den Hirseanbau und das Klima, und die Deutsche klagte über Politik. Nicht dass sie etwas für die Israelis übrig hätte, aber was dort in München geschehe, sei doch schrecklich! Natürlich könne man die Verzweiflung der Palästinenser verstehen, könne verstehen, dass sie die Juden auch und gerade im Ausland angriffen, denn was hätten sie sonst schon für Möglichkeiten, die Weltöffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen? Weshalb das ganze Attentat eben auch die Folge der internationalen Politik, des Verhaltens der Staatengemeinschaft sei – und dennoch! Es seien auch unschuldige Menschen darunter. Könne man

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