Herrndorf, Wolfgang - Sand
Michelle, wie Carl ihr den Hängenden Mann aus der Hand nahm und auf seine ursprüngliche Position zurücklegte.
«Das ist der Hängende Mann», sagte sie, «den nehm ich sonst immer raus, weil, wenn wir das so liegen lassen, wenn das hier so liegen bleibt, es könnte auch bedeuten, dass tatsächlich jemand stirbt … oder etwas … nein, jemand … weil, bei der Fragestellung, wo wir jetzt gesagt haben, worum geht es, und es geht ja um dich, nicht? Das heißt also du …»
«Und das kann man einfach rausnehmen, und dann stirbt man nicht?»
«Von Sterben hab ich nichts gesagt! Nicht unbedingt, aber Moment … ich muss nachdenken. Einen Moment, bitte. Wie ich am Anfang schon sagte: Das sind zeitliche Muster, die eher so Kraftfelder sind, und da kann man nie sagen, es ist so, oder es ist so. Nur dass die Karte hier, ich meine, der Tod … und der Narr und der Teufel und hier das Gericht, in dieser Anordnung, so wie das angeordnet ist… so was hab ich ja noch nie gesehen.»
Michelle fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. Sie versuchte, Zeit zu gewinnen. Mit dem Gesicht eines Kindes, das kurz davor ist, loszuweinen, blickte sie auf die problematische Kombination. Aber die Karten ließen wenig Zweifel zu.
Michelle spürte es, und sie spürte, dass Carl es ebenfalls spürte.
«Aber sterben muss man doch sowieso. Da steht doch nicht, wann?»
«Das ist die nahe Zukunft, fast Gegenwart. Ich meine –»
«Und wenn ich schon gestorben bin?»
«Gehen wir noch einmal zum Anfang», sagte Michelle mit zittriger Stimme. «Ich will noch mal versuchen, das als Ganzes zu sehen. Da haben wir den Stern, den ich ja immer sehr gut finde, eine sehr gute Karte, was bedeutet, dass du am Anfang voller Hoffnung warst … und das stimmt ja auch. Du hast erzählt, wie du da aufgewacht bist in der Scheune –»
«Und wenn ich schon gestorben bin?»
Helen konnte Michelles Gesichtsausdruck von hinten nicht sehen, aber sie sah den Körper ihrer Freundin erstarren, eine Hand über den Karten, die andere am Hinterkopf, der Ellenbogen gen Himmel gereckt.
Volle zehn Sekunden vergingen. Dann hatte Michelle begriffen, worauf Carl hinauswollte. Helen unterdrückte ein Stöhnen.
«Wenn du schon gestorben bist!», rief Michelle begeistert. «Natürlich! Wenn du schon … du hast wirklich, du bist wirklich ein ganz besonderer Mensch», sagte sie und tippte aufgeregt mit dem Zeigefinger auf den Hängenden Mann, der direkt neben dem Turm lag (der fast so etwas wie eine Leiter war, eine Leiter in einer Scheune!) und gefolgt wurde vom Tod in der näheren Zukunft: Carls Gedächtnisverlust. Der Tod seiner früheren Identität.
Fassungslos schüttelte Michelle den Kopf. «Das ist manchmal Wahnsinn, wie genau die Karten Bescheid wissen! Und dass du das gespürt hast… ich sage das nicht nur, um dir zu schmeicheln. Aber ich bin da ganz offen, und ich hab das vom ersten Moment an gewusst, als du die Tür aufgemacht hast, dass du ein ganz besonderer Mensch bist. Ein ganz besonderer Mensch. Und du hast eine große Begabung für die Karten. Der Turm, der Eremit und der Wagen … hast du nicht auch von einem Wagen erzählt mit vier Männern drin? Weil, das sind die Einflüsse hier, die strahlen nach den Seiten aus. Wobei der Wagen auch nur eine Suche bedeutet, die Suche, auf der du bist … die Suche nach deiner Identität. Und der Hängende Mann, ich nehm den meistens raus, wie gesagt, aber der bedeutet als Bedeutung eigentlich nur eine Umkehrung, ein Umdenken der eigenen Situation, und dass du jetzt praktisch noch selbst dieser Hängende Mann bist, weil du da kopfüber an dieser Leiter hängst … das ist einfach nur Wahnsinn.» Ihr Zeigefinger wanderte mit neu gestärktem Selbstvertrauen nach rechts, in die Zukunft. Der Tod der Identität, der Narr, die Hohepriesterin und am Ende das Gericht. Die Karten hatten keine sehr offensichtliche Verbindung mehr, jetzt war Konzentration nötig.
Michelle konzentrierte sich und sagte: «Der Narr auf der Sieben, das ist das Selbst, wie du selbst dich siehst … und das Gericht, das ist das Ergebnis. Was bedeutet das? Das bedeutet das Ende einer Leidenszeit. Ein Neubeginn, würde ich sagen … allerdings liegt die Karte falsch rum, das kann also auch das Gegenteil bedeuten, ich meine, wenn wir sie nicht rumdrehen, und du … nein? Weil, da gibt es unterschiedliche Schulen, ich dreh das meistens um.»
Michelle heftete einen mädchenhaftzutraulichen Blick auf Carl, aber der schüttelte hartnäckig den Kopf.
«Also,
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