Herrscher des Lichts - Sanderson, B: Herrscher des Lichts - The Hero of Ages, Mistborn 3
ist zu schwach. Ja, er ist tief und unergründlich, aber er ist auch schrecklich. Viele erkennen nicht, dass er zu Empfindungen fähig ist, aber ich habe es bei den wenigen Malen, als ich ihm unmittelbar gegenüberstand, tief in meinem Inneren gespürt.
Sie betrachtete die Seite eine Weile und lehnte sich auf der Bank zurück. Neben ihr floss das Wasser des Kanals vorbei, bedeckt von einem Schaum aus treibender Asche.
Das Buch war Alendis Tagebuch. Es war vor tausend Jahren von einem Mann geschrieben worden, der sich für den Helden aller Zeiten gehalten hatte. Alendi hatte seine Suche nicht beenden können; er war von einem seiner Diener – Raschek – getötet worden, der dann die Macht bei der Quelle der Erhebung
selbst ergriffen hatte und zum Obersten Herrscher geworden war.
Alendis Geschichte kam Vins eigener erschreckend nahe. Auch sie hatte angenommen, der Held – oder die Heldin – aller Zeiten zu sein. Sie war zur Quelle gereist und dort betrogen worden. Allerdings war sie nicht von einem ihrer Diener verraten worden, sondern von der Macht, die in der Quelle gefangen gewesen war. Vin nahm an, dass diese Macht hinter den Prophezeiungen über den Helden aller Zeiten steckte.
Warum kehre ich immer wieder zu diesem Abschnitt zurück?, fragte sie sich und betrachtete wieder die Seite. Vielleicht war es wegen dem, was Mensch ihr gesagt hatte – dass der Nebel sie hasste. Sie hatte diesen Hass selbst gespürt, und anscheinend hatte auch Alendi ihn gefühlt.
Durfte sie den Worten des Tagebuches trauen? Die Macht, die sie freigelassen hatte – dieses Ding, das sie Ruin nannte –, hatte bewiesen, dass es vieles in der Welt verändern konnte. Dabei handelte es sich um kleine, aber wichtige Dinge: Zum Beispiel um den Text in einem Buch, weswegen Elants Offiziere inzwischen angewiesen waren, alle Botschaften mündlich aus dem Gedächtnis oder eingeritzt in Metall zu überbringen.
Falls es in diesem Tagebuch wichtige Hinweise gegeben hatte, dann waren sie sicherlich schon vor langer Zeit von Ruin entfernt worden. Vin fühlte sich, als sei sie während der letzten drei Jahre an der Nase herumgeführt und an unsichtbaren Fäden ferngelenkt worden. Sie hatte geglaubt, Offenbarungen zu haben und große Entdeckungen zu machen, doch in Wirklichkeit war sie nur Ruins Befehlen gefolgt.
Aber Ruin ist nicht allmächtig, dachte Vin . Wenn er es wäre, dann hätte es keinen Kampf gegeben. Dann hätte er mich nicht dazu bringen müssen, mich freizulassen.
Er kann meine Gedanken nicht kennen …
Aber auch dieses Wissen half nicht weiter. Wozu waren ihre
Gedanken gut? Früher hatte sie Sazed, Elant oder TenSoon gehabt, mit denen sie über solche Dinge reden konnte. Das war keine passende Aufgabe für Vin; sie war keine Gelehrte. Doch Sazed hatte seine Studien aufgegeben, TenSoon war zu seinem Volk zurückgegangen, und Elant war in letzter Zeit so beschäftigt, dass er sich um nichts anderes als um Politik und um seine Armee Gedanken machte. Also blieb nur Vin übrig. Und sie empfand Lesen und Studieren immer noch als staubig und langweilig.
Aber sie gewöhnte sich immer mehr an die Vorstellung, das zu tun, was notwendig war, auch wenn es nicht nach ihrem Geschmack war. Sie war nicht länger nur für sich selbst verantwortlich. Sie gehörte dem Neuen Reich an. Sie war seine Waffe gewesen, und nun war es Zeit, eine andere Rolle zu spielen.
Ich muss es tun, dachte sie, während sie im roten Sonnenlicht saß. Hier gibt es ein Rätsel – und das muss gelöst werden. Was war noch gleich einer von Kelsiers Lieblingssprüchen gewesen?
Es gibt immer ein weiteres Geheimnis.
Sie erinnerte sich daran, wie Kelsier kühn vor einer kleinen Gruppe von Dieben gestanden und verkündet hatte, sie würden den Obersten Herrscher stürzen und das Reich befreien. Wir sind Diebe, hatte er gesagt. Und zwar außerordentlich gute. Wir können das Unstehlbare stehlen und den Untäuschbaren täuschen. Wir wissen, wie wir an ein unglaublich großes Ziel herangehen und es in kleine Bruchstücke unterteilen müssen, damit wir uns nacheinander jedem einzelnen Stück widmen können.
Als er an jenem Tag die Ziele und Pläne der Mannschaft auf eine kleine Tafel geschrieben hatte, war Vin erstaunt darüber gewesen, wie möglich das Unmögliche aus seinem Munde klang. An jenem Tag hatte ein kleiner Teil von ihr tatsächlich geglaubt, dass Kelsier das Letzte Reich stürzen konnte.
In Ordnung, dachte sie. Ich fange so an wie Kelsier und mache mir eine
Weitere Kostenlose Bücher