Herrscher über den Abgrund
jede Hand ruhte auf dem Kopf eines ihrer Tiere.
Vermutlich waren sie von derselben Rasse, doch sie unterschieden sich beträchtlich in Färbung und Größe. Das eine Tier, von einem hellen Rötlich-Braun, war das größere; das kleinere war dunkelbraun und hatte schwarze Pfoten und einen schwarzen Schwanz. Ihre langen Schweife schlugen, während sie sich näherten. Ganz offensichtlich hielten sie ihn für nicht ganz harmlos und hätten gerne angegriffen, wenn nicht der Wille ihrer Herrin sie zurückgehalten hätte.
In einiger Entfernung blieb sie stehen und musterte ihn kühl. Auch die Tiere warteten.
„Wohin gehst du, Schmied?“ Der Ton traf ihn. Welches Recht hatte sie, ihn auf diese Art auszufragen?
„Das Gesicht hat angezeigt, daß nunmehr unsere Wege die gleiche Richtung haben.“ Sie hatte sehr helle Augen, und sie hielten seinen Blick fest. Er mochte ihre anmaßende Haltung nicht; sie behandelte ihn, als wäre er ihr Gefolgsmann.
„Ich habe keine Ahnung, was du mit Gesicht meinst.“ Entschlossen löste er seinen Blick. „Ich suche meine eigenen Angelegenheiten.“
Sie runzelte die Stirn, als könnte sie nicht glauben, daß er ihrer Macht widerstehen konnte. Er war jetzt überzeugt, daß sie ihn auf irgendeine Weise beeinflussen wollte.
„Was du suchst“, gab sie scharf zurück, „ist das Wissen der Früheren Menschen. Und das muß ich ebenfalls finden, damit mein Volk gerächt wird. Ich bin Fanyi, und ich spreche mit den Geistern. Das sind Kai und Kayi, die immer bei mir sind, wenn es notwendig ist. Ich schützte Padford, aber ich mußte fortgehen und den Großen Mond treffen. Während meiner Abwesenheit“ – sie machte eine leichte Bewegung mit der Hand – „wurde mein Volk erschlagen, mein Glaube an sie zerbrach. Das darf nicht sein!“ Ihre Lippen entblößten die Zähne. „Die Blutschuld liegt auf mir. Aber bevor ich sie begleichen kann, muß ich mit den Früheren mich beraten. Ich frage dich, Schmied, hast du Kunde, wo der Ort liegt, den du suchst?“
Er wollte gern mit ja antworten, aber es lag etwas in ihrem Blick, das ihm die Wahrheit abforderte.
„Ich bin Sander. Ich suche nach einer der Früheren Städ te. Sie könnten an der Nordküste des Meeres liegen …“
„Die Geschichte eines Händlers vielleicht?“ Sie lachte, und er hörte den Spott heraus, der ihn wütend machte. „Den Geschichten der Händler kann man nicht trauen, Schmied. Sie versuchen immer zu täuschen, damit ihre Gebiete unbekannt bleiben. Aber diesmal stimmt es zur Hälfte. Im Norden – und im Osten – liegt ein großer Ort der Früheren Menschen. Ich bin eine von denen, die begnadet sind mit den Kräften der Schamanen – und wir besitzen noch etwas von der Weisheit. Es gibt einen Ort …“
„Im Nordosten liegt das Meer“, widersprach Sander. „Vielleicht ist deine Stadt verloren und längst unter den Wogen begraben.“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Das Meer hat sich an manchen Stellen tief in das Land hineingefressen; an anderen Stellen hat es sich von den früheren Meeresgründen zurückgezogen, und lang verborgenes Land liegt wieder frei. Aber“, sie zuckte die Schultern, „das wird sich erst erweisen, wenn wir es sehen. Du suchst, ich suche – aber unsere Suche ist nicht sehr verschieden. Ich suche ein bestimmtes Wissen, und du suchst ein anderes, ist dies nicht die Wahrheit?“
„Ja.“
„Sehr gut. Ich habe Macht, Schmied. Und wahrscheinlich verfüge ich über größere Kräfte, als du sie in deinen Händen hast.“ Sie warf einen Blick auf die Waffe in seiner Hand. „Aber allein in die Wildnis einzudringen, ist Narrheit, wenn zwei in die gleiche Richtung reisen wollen. Deshalb sage ich dir – laß uns gemeinsam wandern. Ich teile mit dir mein Wissen über den Ort, wo die Früheren Städte liegen.“
Er zögerte. Aber er glaubte, daß sie aus irgendeinem Grund im Ernst gesprochen hatte. Warum sie allerdings ein derartiges Angebot machte, verstand er nicht ganz. Sie schien seine Gedanken zu lesen, denn sie fügte hinzu: „Habe ich dir nicht gesagt, daß ich ein Gesicht hatte? Ich weiß wenig von deinem Volk, Schmied, aber gibt es dort keinen, der weissagen kann, der das bisweilen sehen kann, was noch nicht geschehen ist, aber geschehen wird?“
„Wir haben die Weisen. Doch sie träumen von der Vergangenheit, nicht von der Zukunft. Die Händler aber haben erzählt von Leuten, die voraussehen können.“
„Sie sehen in die Vergangenheit?“ Fanyi schien erstaunt.
Weitere Kostenlose Bücher