Herrscher
Zauberer heftete einen durchdringenden Blick auf Muth-pah.
Selbst im Düstern sah sie, dass seine Augen die Farbe des Himmels hatten. Sie schienen unendlich tief zu sein, und die Matriarchin hatte das Empfinden, in ihnen zu versinken. Ein Drängen keimte in ihrem Brustkorb, noch ehe Velasa-pah weitersprach.
»Stelle dir einen Falter in einem Spinnenetz vor. Alle Urkzimmuthi sind dieser Falter. Die Spinne kommt. Wir müssen uns aus dem Netz befreien, sonst sind wir dem Untergang geweiht. Zaudere keinen einzigen Tag. Unser Schicksal wird sich entscheiden, lange bevor die Landstraßen frei von Schnee sind.«
Muth-pah wollte etwas antworten, da wurde der Zauberer so fahl und feinstofflich wie heller Rauch. Durch die
Deckenöffnung stob ein Windstoß herein und zerblies seine Umrisse zu nichts. Die Matriarchin stand allein im Dunkeln.
Den Großteil der Nacht brachte Dar mit dem Abwägen der Frage zu, ob sie Nir in das einweihen sollte, was sie erfahren hatte. Als Schwester der Königin durfte sie davon Kenntnis erhalten. Gleiches galt für Muth-yat und Zor-yat. Und ebenso für Meera-yat.
Allerdings sorgte sich Dar, Nir-yat könnte sich so verhalten wie diese drei und in ihr eine Gefahr für die Sippe sehen. Sie fürchtete die Auswirkungen, falls sich Nir-yat gegen sie stellte. Der bloße Gedanke an diese Möglichkeit raubte ihr den Schlaf.
Gegen Anbruch der Morgendämmerung entschied Dar, dass auf Unwissenheit fußende Treue keinen Wert hatte. Und selbst wenn sie schwieg: Nir-yat könnte das geheime Wissen auch von dritter Seite zuteilwerden. Es war möglich, dass Muth-yat und Zor-yat es ihr enthüllten. Muthuri hat schon Andeutungen gemacht.
Es ist am besten, Nir erfährt die Geheimnisse von mir.
Allerdings machte der Vorsatz, sich Nir-yat anzuvertrauen, die Sache keineswegs einfacher, sodass Dar ihr Vorhaben den ganzen Vormittag aufschob. Stattdessen planten sie und Nir-yat die Feste, die Dar für die einzelnen Familien veranstalten musste.
»Ich möchte, dass du feierlich gekleidet bist«, sagte Nir-yat nach dem nochmaligen Durchsehen des Hanmuthi-Verzeichnisses. »Du solltest warten, bis deine Talmauki-Kefe fertig sind.«
»Wann wird es so weit sein?«, fragte Dar.
»Ich habe mich gestern bei Thorma-yat erkundigt. Morgen
sollen die Stoffe zugeschnitten sein. Dann dürften die Kefe übermorgen fertig werden.«
»Also könnte übermorgen das erste Fest stattfinden. Darfst du teilnehmen?«
»Hai. Aber servieren musst du. So verlangt es das überlieferte Brauchtum. Und das erste Fest muss am üppigsten sein.«
»Soll ich Falfhissi ausschenken?«, fragte Dar, die sich noch gut entsann, wie betrunken das Getränk sie während ihres Willkommenfests gemacht hatte.
»Hai, aber beschränke dich auf kleine Schlückchen«, antwortete Nir-yat und verzog den Mund zu einem Lächeln.
»Weißt du noch, wie ich dir damals meine Liebe zu Kovok-mah gestanden und es danach vergessen habe?«
»Hai.«
»Du hast es niemandem erzählt«, sagte Dar. »Dafür war ich dir sehr dankbar.«
Nir-yat würdigte das Lob durch ein Nicken.
»Nir, ich muss dir noch mehr Geheimnisse anvertrauen. Yev-yat hat mir gestern Furchterregendes erzählt. Du solltest es wissen. Es betrifft mich.«
»Was ist es?«
»Alten Schriften zufolge wurde Velasa-pah zum Leben verdammt, bis eine Königin aus dem Westen erscheint. Eine andere Schrift erwähnt diese Königin. Ihr Kommen soll gefährliche Zeiten einläuten. Yev-yat glaubt, dass ich diese Königin bin.«
»Und was wird nach ihrer Meinung geschehen?«
»Es gibt ein Deetpahi, das die Zerstörung des hiesigen Familiensitzes ankündigt. Ich hatte eine Vision recht ähnlichen Inhalts.«
Nir-yat wurde bleich. »Jemand könnte behaupten, dass du diese Gefahr auf uns ziehst.«
»Ja«, sagte Dar leise. Zum ersten Mal gewahrte sie einen schwachen, aber scharfen Geruch. Sie vermutete, dass sie die Furcht ihrer Schwester roch.
Wortlos betrachtete Nir-yat die schöne alte Räumlichkeit, in der sie saßen. Dann seufzte sie. »Solche Worte müssten dir die Bürde erschweren. Sie werden nie über meine Lippen kommen.«
Am Nachmittag suchte Dar die Kammer des Wissens auf, um die erste Unterrichtsstunde im Lesen und Schreiben zu erhalten.
Sie ging allein, da sie den Weg zu kennen glaubte. Dennoch bog sie mehrmals falsch ab, bevor sie ihr Ziel erreichte, da die Flure irgendwie anders zu verlaufen schienen. Sie können nicht anders verlaufen, dachte sie. Steinerne Flure ändern sich nicht über
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