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Herrscher

Herrscher

Titel: Herrscher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howell Morgan
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Nacht. Ich bin bloß übermüdet.
    Yev-yat erwartete sie an einem Tisch, auf dem eine Anzahl unbeschrifteter, mit Lehm bestrichener Deetpahi lagen. Daneben befand sich ein weiteres Deetpahi, dessen weißer Lehm reihenweise angeordnete Zeichen aufwies.
    »Möge Muth’la dich segnen, Yev-yat.«
    »Shashav, Muth Mauk. Heute werde ich dich alle vierzig Lautzeichen lehren.« Sie zeigte auf einen stängelähnlichen Gegenstand und ein kleines Gefäß voll schwarzer Flüssigkeit. »Hiermit kannst du das Schreiben üben.« Sie hob eine flache Steinklinge an. »Und damit schabst du deine Fehler fort.«
    Dar schmunzelte. »Ich glaube, ich werde es häufig tun müssen.«
    »Das bezweifle ich, Muth Mauk. Du hast diese Zeichen früher schon geschrieben.«

    »Niemals.«
    »Über das Schreiben hinaus will ich dich eine weitere Fähigkeit lehren. Sag mir, Muth Mauk, siehst du gelegentlich etwas, das nicht da ist?«
    »Manchmal.«
    »Kommt es der Wirklichkeit immer näher?«
    »Hai.«
    »Schau dich um. Bemerkst du irgendeine Veränderung?«
    Dar schaute sich um und schnitt eine Miene der Ratlosigkeit. »Ich entsinne mich an einen anderen Fußboden. Ohne Mosaiken im Stein. Wie ist so etwas erklärlich?«
    »Und mein Gesicht. Erinnert es dich an jemanden?«
    Dar musterte die Wissenshüterin. »Ja, tatsächlich. Du ähnelst Eva-yat. Ist sie deine Muthuri?«
    »Thwa. Eva-yat war meine Großmutter. Sie starb vor drei Wintern.« Yev-yat lächelte über Dars Verwirrung. »Die Ursache ist das Fathma, Muth Mauk. Deine Seele verschmilzt mit dem Geist deiner Vorgängerinnen. Ihre Erinnerungen leben fort. Vor Langem hatte der Fußboden noch keine Mosaiken. «
    »Als ich das Fathma empfing, habe ich plötzlich Liebe zu allen Urkzimmuthi verspürt, aber nichts anderes.« Für einen Augenblick überlegte Dar. »Außerdem entsinne ich mich leiser Stimmen. Wie Blätterrauschen im Wind.«
    »Das waren Erinnerungen. Sie wirken auf jede Große Mutter unterschiedlich ein. Den Grund kennt man nicht. Manche beachten sie kaum. Für andere gleichen sie Visionen. Meine Vermutung ist, dass du sie ungewöhnlich stark wahrnimmst.«
    »Muth’la steh mir bei! Wie soll ich dann Gegenwart von Vergangenheit trennen?«
    »Sobald du dir angewöhnt hast, dich darauf einzustellen,
werden diese Erinnerungen dir von Nutzen sein. Schreiben zu lernen, kann dir dabei helfen. Nimm den Schreibstift in die Hand.«
    Als Dar es tat, lächelte Yev-yat.
    »Und schon fällt dir ein, wie man ihn richtig hält. Auch das ist ein Ergebnis der Erinnerungen. Sicherlich können sich deine Finger nach einigem Üben darauf besinnen, wie man Lautzeichen schreibt.«
    Die Voraussage der Wissenshüterin erwies sich als zutreffend. Schon nach vergleichsweise wenig Übungen konnte Dar sämtliche orkischen Lautzeichen schreiben, auch wenn sie leicht wackelig wirkten. Trotzdem erstaunte es sie, dass sie diese Fähigkeit überhaupt hatte. Außerdem wusste Dar recht bald den Laut jedes Zeichens zu deuten. Sie schrieb vier Zeichen in den weißen Lehm und las sie laut vor. »D-a-r-g-u. Dargu.« Sie lächelte. »Das ist mein Name.«
    »Es war dein Name. Jetzt bist du Muth Mauk.«
    »Freilich«, antwortete Dar. »Das Fathma hat mich mit allen Großen Müttern verschmolzen.«
    »Laut einiger Deetpahi gibt es nur eine Muth Mauk, die immer wieder den Körper wechselt.«
    »Wie verhält es sich mit den Müttern der Pah-Sippe, die Königinnen wurden? Ist mein Geist auch mit ihnen verbunden ?«
    »Das kannst nur du selbst beantworten.«
    Um dies zu versuchen, richtete Dar ihre Gedanken auf Tarathank. Zuerst erinnerte sie sich ausschließlich an die Ruinen, die sie besucht hatte: Sie sah nur brandgeschwärzte, mit Ranken überwucherte Steine. Dann verschwamm das Bild vor ihrem geistigen Auge wie eine ferne Aussicht an einem heißen Tag.
    Sie erinnerte sich, auf einem Turm gestanden zu haben.
Er ragte über einer Stadt auf, in der zahlreiche Gärten die kantigen Umrisse aus hellem Stein milderten. Tarathank war nicht bloß unversehrt, es lebte und gedieh. Die Erinnerung war so wirklichkeitsgetreu, dass Dar kaum noch wusste, ob sie sich in Wahrheit in der Kammer des Wissens befand. Die Ausblicke, Geräusche und Gerüche einer Stätte schienen sie zu umgeben, die sie liebte; dieser Ort war ihre Heimat in einem früheren Leben gewesen.
    Andächtig in die Erinnerung versunken lenkte sie den Blick hinaus auf die grüne Ebene, die sich rings um die Stadt erstreckte. Das Land war in saftige Felder unterteilt, die bis

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