Herz an Herz
vielleicht etwas übertrieben, ich weiß ja nicht mal, wie alt Sie sind!)
Jetzt gerade zum Beispiel sollte ich im Bett liegen und eine Sachbuch- CD über moderne Kommunikation hören. Aber ich tue es nicht, weil ich Ihnen schreibe! Daher werde ich wohl morgen besonders müde sein und am Abend vielleicht die 15 Seiten Fachliteratur nicht lesen können. Und den Roman? Mal sehen.
Ist das jetzt gut? Oder ist das traurig, weil ich feststelle, dass ich für neue Dinge keinen Platz in meinem Leben habe? Andererseits war ich bisher ja nicht unglücklich und brauchte daher keine neuen Impulse in meinem Leben. Vielleicht war sogar alles perfekt … Und nun gerät es durcheinander.
Verdammt! Jetzt ist es so weit: Ich denke doch über mich nach!
Aber zu mehr Nachdenken wird es heute nicht mehr kommen. Ich lasse es nicht zu, außerdem fallen mir gleich die Augen zu. Morgen früh werde ich – zwischen Zähneputzen, Geschirr wegstellen und aus dem Haus gehen – diesen Brief frankieren und dann mit dem Fahrrad am nächsten Briefkasten vorbeifahren. Ich werde insgeheim hoffen, dass Sie mir nicht so schnell antworten, denn dann läuft mein Leben weiter in geordneten Bahnen.
Andererseits werde ich jeden Abend begierig in meinen Briefkasten gucken und enttäuscht sein, wenn doch wieder kein Brief drinliegt. Noch dazu werde ich ein schlechtes Gewissen mit mir herumtragen, denn ich habe diesmal nur über mich geschrieben. Nichts über die interessante Frau Becker, ihre messerscharfen Kommentare und ihre (un)freiwillige Männerpause. Dabei hätte ich viel zu dem Thema zu schreiben (und noch mehr zu fragen!), und was ich zu sagen (und zu fragen) hätte, würde Sie sicher interessieren. Aber dazu im nächsten Brief mehr. Der nächste Brief wird ein Sara-Becker-Brief, versprochen!
Bis hoffentlich bald
Ihr
Berti Huber
P.S. Geschickt, dieser letzte Satz mit dem «Sara-Becker-Brief» von mir, was? Und wie ich Sie damit wieder bei der «Brieffreundschaftsstange» halte. Ich alter Fuchs!
P.P.S. Hoffentlich klappt es auch.
PPPS . Ab sofort werde ich die Postskripte in korrekter Form anwenden. (Sind Sie Lehrerin?)
***
16. 9.
Lieber Berti,
Sie scheinen mir nicht nur ein Kalauerkönig, sondern in der Tat auch ein Schlitzohr zu sein. Einen Sara-Becker-Brief anzukündigen, ist wirklich sehr fuchsig und verleitet mich dazu, sofort auf Ihren Brief zu antworten – ohne ihn mit Rotstift zu korrigieren. Ich bin nämlich keine Lehrerin und was Pädagogik angeht daher auch vollkommen talentfrei. Stattdessen freue ich mich, Ihr Leben (das Leben eines fremden Mannes!) oder zumindest Ihren Alltag ein Stück weit durcheinanderzubringen.
Mich amüsiert die Vorstellung, dass Sie jeden Tag (pünktlich) um 19.30 Uhr nach Feierabend mit dem Fahrrad nach Hause fahren (in meiner schmutzigen Phantasie tragen Sie einen Hightech-Helm und Klammern ums Hosenbein). Sie bringen das Rad in den aufgeräumten Keller, damit es auch ja nicht rostet oder geklaut wird. Dann gehen Sie voller Spannung an den Briefkasten. Ihr Herz macht einen kleinen Hüpfer, als Sie meinen blauen Brief entdecken. Schnell schleichen (!) Sie sich an Petzi vorbei zu Ihrer Wohnung. Sie treten bestimmt sorgfältig die Füße ab, bevor Sie hineingehen, um nach zwei Schritten in korrekt aufgestellte Hausschuhe aus Leder zu schlüpfen. Anschließend nehmen Sie sich das kalt gestellte Weißbier aus dem High-End-Nobelkühlschrank (der eine Internetverbindung zum Supermarkt hat) und gehen mit dem Kuvert auf den stets sauberen und ordentlichen Balkon (mit Geranien in akkurat ausgerichteten Blumenkästen mit vollautomatischer Wasserversorgung). Dort lassen Sie sich auf einem aluminiumgebürsteten Designerstuhl (mit perfekt abgestimmten Sitzkissen) nieder und lesen diese Zeilen – halb belustigt, halb beleidigt wegen der fiesen Kommentare in Klammern. (Ich hatte Sie gewarnt!)
Doch das Amüsanteste an dieser Szene kommt erst jetzt: Durch die Lektüre dieser Zeilen gerät Ihr (minutiöser) Zeitplan durcheinander, und Sie laufen Gefahr, Ihre hochgesteckten Tagesziele zu verfehlen und Ihren Tagesrhythmus durch einen einzigen Brief tsunamiartig zu erschüttern. Denn die kostbaren Minuten, in denen Sie für gewöhnlich Ihre (obligatorischen) zwei Scheiben Abendbrot (davon eine mit edlem Schweizer Käse, eine mit Trüffelsalami) einnehmen, vertrödeln Sie nun mit dem Lesen von Gemeinheiten Ihrer noch immer schlecht gelaunten Brieffreundin.
Folglich ist nicht nur
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