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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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See. Er hatte all die Männer gekannt, die der
     Nation zum Stolz gereichen, und ihnen gedient, von Sir Francis Drake bis Sir John Franklin – all den Rittern, mit Titel oder
     ohne, den großen fahrenden Rittern der See. Er hatte all die Schiffe getragen, deren Namen in der Nacht der Zeiten wie Juwelen
     funkeln, von der
Golden Hind
, die, ihre runden Flanken voller Schätze, heimkehrte, um von Ihrer Hoheit der Königin besucht zu werden und somit die Heldensage
     zu beschließen, bis zur
Erebus
und zur
Terror
, die sich auf die Fahrt zu weiteren Eroberungen machten – und niemals wiederkehrten. Er hatte die Schiffe gekannt und die
     Männer. Von Deptford, von Greenwich, von Erith waren sie losgesegelt – Abenteurer und Siedler, die Schiffe des Königs und
     die Schiffe der Spekulanten; Kapitäne, Admirale, die finsteren »Schleichhändler« der östlichen Märkte und die beauftragten»Generale«
     der Ostindischen Handelskompanie. Die Goldjäger und die Glücksritter, alle waren sie auf diesem Strom gefahren, mit |8| dem Schwert in der Hand und oft mit der Fackel, Gesandte der Landesmacht, Träger eines Funkens des heiligen Feuers. Welche
     große Persönlichkeit, die nicht mit der Ebbe dieses Flusses dem Geheimnis der unbekannten Welt entgegengefahren!   ... Die Träume der Menschen, die Saat von Ländern, die Samen von Weltreichen.
    Die Sonne ging unter; Dämmerung fiel über dem Strom, und entlang der Küste begannen Lichter aufzuflammen. Der Chapman-Leuchtturm,
     ein dreibeiniges Ding auf einer Schlammzone errichtet, strahlte hell. Lichter von Schiffen bewegten sich in der Fahrrinne
     – ein reges Treiben von Lichtern, hinauf und hinunter. Und flußaufwärts, im Westen, war die Lage der riesigen Stadt immer
     noch unheilvoll am Himmel markiert, ein brütender Schatten in der Sonne, ein gespenstischer Schein unter dem Sternenlicht.
    »Und auch das«, sagte Marlow plötzlich, »war einmal einer der finsteren Orte der Erde.«
    Er war der einzige unter uns, der immer noch »dem Ruf der See« folgte. Das Schlimmste, was man über ihn sagen konnte, war,
     daß er kein typischer Vertreter seiner Kaste war. Er war ein Seemann, doch er war auch ein Reisender, während die meisten
     Seeleute, wenn man so sagen kann, ein seßhaftes Leben führen. Sie zählen eher zu den Stubenhockern, und ihre Stube haben sie
     immer dabei – das Schiff – und ebenso ihr Heimatland – das Meer. Ein Schiff gleicht ziemlich dem anderen, und das Meer ist
     immer dasselbe. In dieser unveränderten Umgebung gleiten die fremden Küsten, die fremden Gesichter, die wechselhafte Unendlichkeit
     des Lebens an ihnen vorbei, verhüllt nicht von Geheimnis, sondern von leicht abschätziger Ignoranz; denn für den Seemann ist
     nichts geheimnisvoll außer der See selbst, die über seine Existenz gebietet und unergründlich wie das Schicksal ist. Ansonsten
     genügt ihm, nach dem Tagewerk eine gelegentliche Promenade oder Sauferei |9| an Land, um ihm das Rätsel eines ganzen Kontinents zu offenbaren, und im allgemeinen interessiert ihn die Rätsellösung nicht.
     Seemannsgarne sind von nackter Einfachheit, und ihre ganze Bedeutung paßt in die Schale einer geknackten Nuß. Doch Marlow
     war nicht typisch (seine Neigung zu fabulieren ausgenommen), und die Bedeutung einer Begebenheit lag für ihn nicht im Innern
     wie der Kern, sondern außerhalb, sie umfing die Geschichte, die sie sichtbar machte, wie Licht einen Dunst, ähnlich dem nebligen
     Hof, den die Streuung des Mondscheins von Zeit zu Zeit zum Vorschein bringt.
    Die Bemerkung überraschte uns keineswegs. Sie paßte genau zu Marlow. Sie wurde schweigend akzeptiert. Keiner machte sich die
     Mühe, sich auch nur zu räuspern; und bald sagte er sehr langsam:
    »Ich dachte an sehr alte Zeiten, als die ersten Römer hier ankamen, vor neunzehnhundert Jahren – gestern   ... Licht kam von diesem Fluß seit – den Rittern, sagt ihr? Ja, aber das Licht ist wie ein rasender Steppenbrand, wie ein
     Blitz, der aus den Wolken fährt. Wir leben in seinem Aufflackern – möge es dauern, so lange die alte Erde sich noch dreht!
     Doch nach gestern herrschte hier Finsternis. Stellt euch die Gefühle des Kapitäns einer schönen – wie heißen sie noch? – Trireme
     vor, im Mittelmeer, der plötzlich nach Norden beordert wird; in Eile prescht er durch Gallien; erhält das Kommando über einen
     dieser Kähne, den die Legionäre – ein prächtiger Haufen Handwerker muß das gewesen sein – zu Hunderten

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