Herz der Finsternis
ihr räumlich nachreist – dies ist in der Tat ein |141| zentraler und oft bemühter Topos europäischer Vorstellungswelten. Er faßt das geographische Nebeneinander als historisches
Nacheinander auf und behauptet, daß allen sogenannten Naturvölkern jede kulturelle Dynamik, jede Entwicklung und jede Geschichte
fehle. Nur aufgrund dieser Voraussetzung aber kann ein ganzer Kontinent wie Afrika zur Projektionsfläche westlicher Phantasien
werden, zum Hort des Primitiven, Ursprünglichen oder Unbewußten: zum Herz der Finsternis.
In dieser Weise fügt der Text sich offenkundig in die Galerie stereotyper Bilder, wie sie der europäische Blick seit langem
von der anderen Welt entworfen hat. Auch Autoren aus dem 20. Jahrhundert bezeugen, daß deren Wirkungsmacht erstaunlich resistent gegen historische Veränderungen ist und sich mit der subtilen
Machart von Conrads Symbolgeflecht erst recht fortsetzt. Mitte der Zwanziger Jahre beispielsweise bereist André Gide den Kongo,
später fährt Graham Greene durch Zentralafrika. Ihre politisch hochbrisanten Reiseberichte
Voyage au Congo
(1927) und
Journey Without Maps
(1936) zeigen, daß Conrad ihnen regelrecht als Reiseführer dient und die literarischen Landkarten bereitstellt, mit Hilfe
derer sie gebahnten Pfaden durch die Fremde folgen. Zudem ist diese Vorstellung der statisch vorzeitlichen, dunkel faszinierenden
Gegenwelt zur westlichen Zivilisation durchaus auf andere Regionen übertragbar. In
Apocalypse Now
, der spektakulären Filmversion von
Herz der Finsternis
, die Francis Ford Coppola 1979 herausbrachte, führt Marlows Flußfahrt ins Innere von Kambodscha zur Zeit des amerikanischen
Vietnamkriegs und ist doch in denselben Mustern inszeniert. Immer wird das Andere schaudernd als urtümliche Form des Eigenen
behandelt und damit unserem kulturellen Selbstbild einverleibt – im Grunde eine Spielart des Kannibalismus, der umgekehrt
den Wilden ständig unterstellt wird. So kommt es, daß der Reisende im Herz der Finsternis nur auf sich selbst trifft.
|142| Solche Spiegelungen heute kritisch zu betrachten heißt keineswegs, die historische Position und Bedingtheit des Überlieferten
zu leugnen, sondern gerade nach dessen Weiterwirken in der Tradition zu fragen. Achebes zornige Attacke gegen Conrad ist deshalb
Ausdruck unserer grundsätzlich veränderten Lage, weil spätestens mit Auflösung der europäischen Kolonialreiche, eine Generation
nach Conrads Tod 1924, die Sichtachsen und Kontaktzonen zwischen den Welten verschoben worden sind. Zu solchen Perspektivenwechseln
fordern postkoloniale Erzähler aus Afrika, aus Asien und der Karibik nachdrücklich heraus. Mit ihnen erweist sich, daß jedes
Dokument der Kultur auch ein Dokument der Barbarei sein kann, da es ein Einverständnis über kulturelle Zugehörigkeit voraussetzt,
das andere ausgrenzt. Und eben weil
Herz der Finsternis
ein so gewagtes und gewaltiges Kulturwerk darstellt, ist es von vielen dieser zeitgenössischen Autoren neu und anders erzählt
worden, um die Grenzen, die es zieht, entschieden zu durchkreuzen. Beispielhaft dafür sind neben Chinua Achebe vor allem karibische
Romane wie
Palace of the Peacock
von Wilson Harris (1961) oder
The Intended
von David Dabydeen (1991), aber auch viele Werke des karibisch-englischen Nobelpreisträgers V. S. Naipaul, der sich oft – und oftmals sehr emphatisch – mit Conrad als Leitfigur unserer Gegenwart der Heimatlosigkeiten befaßt
hat. Unter ganz anderen Vorzeichen bezeugt selbst die neuere deutschsprachige Literatur, beispielsweise in Christa Wolfs
Störfall
(1987), Urs Widmers
Im Kongo
(1996) oder Anne Zielkes
Arraia
(2004), daß
Herz der Finsternis
weiterhin ein Schlüsseltext bleibt, um unbegriffene Wirklichkeiten zu erkunden.
So sehr diese Erzählung also einem bestimmten historischen Moment gehört, der Abendlanddämmerung an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, so überzeitlich wirkt doch ihre Bannkraft. Wie Robinson Crusoe oder Faust gehören Marlow oder |143| Kurtz längst zum Reigen fester Spielfiguren, die immer wieder in Erscheinung treten und uns mit jeder Wiederkehr, ob heimlich
oder unheimlich, vor ihre Frage stellen. Das aber ist der Grund, warum Conrads Text auch immer wieder neu entziffert, neu
gelesen und neu übersetzt werden muß: denn nur im wiederholten Versuch der Übertragung läge je die Chance der Lösung. Doch
solch ein Schluß ist fraglich. Joseph Conrad, der sich nach langen Reisen
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