Herz des Winters (German Edition)
abgeschlossen, falls du das schon vergessen hast. Da kam eine Kleinigkeit dazwischen. Und die hat, soweit ich mich erinnere, mit denselben Worten von dir begonnen.“
Die Tunnel waren abwechselnd gemauert und einfach in den rauen Fels geschlagen. Dabei waren sie so dunkel, dass sie sich nur vorantasten konnte. Sie hatte zwar Feuersteine im Gepäck, aber nichts, woraus sich eine Fackel hätte bauen lassen. Davon abgesehen lag ihr absolut nichts daran, sich schon von weitem bemerkbar zu machen – auch wenn Morochai meist von oben angriffen, war man nirgendwo vor ihnen sicher, sobald sie eine Stadt als Ziel auserkoren hatten.
Sich irgendwo zwischen Stolpern und Laufen bewegend, konzentrierte sie sich auf die Sinneseindrücke ihrer unmittelbaren Umgebung und versuchte die Erinnerungen auszusperren. Nicht, dass Berekh ihr dazu Gelegenheit gegeben hätte.
„Das ist sechs Jahre her, du solltest langsam darüber hinweg sein“, zischte der unermüdlich lästernde Schädel.
„Vier Jahre davon in der Sklaverei!“ Endlich kam ein Lichtschimmer in Sicht – Tageslicht, kein Feuer. Es schien fast, als ob sie es wirklich aus der Stadt schaffen würden.
„Na und, mich hast du währenddessen im Dreck verbuddelt! Das war auch nicht gerade der Höhepunkt meines Daseins, und ich werfe es dir auch nicht mehr vor.“
„Doch, mindestens einmal im Monat. Und auch wenn du schon tot bist, hätte dir sicherlich nicht gefallen, was sie mit dir gemacht hätten, wenn du ihnen in die Klauen gefallen wärst.“ Das unwillige Brummen, mit dem er antwortete, unterbrach sie barsch: „Still jetzt, der Ausgang kommt …“
Es war kaum zu glauben, doch der Tunnel war weder verschüttet noch mit Echsen gefüllt – sie konnte schon die winternackten Haselsträucher sehen, die vor der mit Efeu und Eis verhangenen Öffnung wuchsen und so das Ende des Fluchtweges von außen selbst zu dieser Jahreszeit nahezu unsichtbar erscheinen lassen mussten. Nur noch wenige Schritte, und sie konnten …
Ein Schatten verdunkelte plötzlich den Ausgang. Bevor sie ihren Dolch völlig aus dem Gürtel gezogen hatte, tauchte ein Arm durch den Efeu und zog sie ins Freie. Weitere Schatten drängten sich um sie, kreisten sie ein und der eiserne Griff, in dem sie gehalten wurde, machte es ihr unmöglich, sich zu wehren.
In Panik grub sie die Zähne in den Oberarm, der sich um sie geschlungen hatte – und registrierte im gleichen Moment, in dem der Schrei erklang, dass sie nicht in Schuppen biss.
„Verfluchte kleine …“
„Fangt sie, sie fällt!“
„Ganz ruhig, Kind, wir tun dir nichts.“
Daenas Hals schmerzte von den krampfhaften Atemzügen, die ihr die nur langsam abebbende Angst aufgezwungen hatte. Kämpfen war eine Sache, aber gegen Morochai war es zwecklos – ihre Narben und Albträume erinnerten sie stets daran. Endlich erkannte sie in den sie umgebenden Leuten Menschen – der Kleidung nach zu urteilen Heiler, Priester und Bauern aus den umliegenden Dörfern.
„Alles in Ordnung, Mädchen? Bist du verletzt?“ Sie blickte in das freundliche, runde Frauengesicht und schüttelte immer noch benommen den Kopf.
„Waren noch mehr Menschen in den Tunneln?“
„Nein … Ich weiß es nicht. Ich habe nur den Schnee gesehen und bin gelaufen …“
Unsicher versuchte Daena, auf die Beine zu kommen, doch einer der Männer zog sie unsanft hoch. „Was soll das heißen? Du hast niemanden gewarnt?“
„Eigentlich …“ Eigentlich war es ihr nicht einmal in den Sinn gekommen, was mit den anderen sein würde. Sie hatte nur daran gedacht, unauffällig zu verschwinden – und Menschen, die in schreiender Panik versuchten, eine gesamte Stadt zu evakuieren, wären dabei ein klares Hindernis gewesen.
„Lass das Mädchen in Ruhe, du siehst doch, dass sie unter Schock steht.“ Damit zog die Frau Daena zu dem improvisierten Lager und drückte ihr eine Schüssel mit Brühe in die zitternden Hände.
Schweigend beobachtete Daena, wie weitere Menschen aus den Tunneln gezogen wurden, manche blutverschmiert, einige mit kleinen Bündeln auf den Armen, die nun ihr gesamtes Hab und Gut darstellten. Alle wurden sie ans Feuer geführt und versorgt, doch es waren so erbärmlich wenige, die es aus der Stadt schafften.
Das Ende des Fluchtweges und damit ihr Lager lag mehrere Kilometer außerhalb der Stadtmauer in einem kleinen Wäldchen. Somit konnte Daena nicht sehen, wie es um die Stadt stand, doch aus Erfahrung wusste sie nur zu gut, was vor sich gehen musste. Wer das
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