Herz des Winters (German Edition)
gestarrt hatte, von Angst und wochenlanger Einsamkeit bedrängt. Aber es war nicht dunkel geblieben, und was im Licht der Blitze furchteinflößend gewesen war, hatte die Dämmerung zu Schatten und Formen gemacht, die sie auch jetzt wieder faszinierten.
Ihre Finger strichen über die Kante der gebrochenen Grabplatte, hinter der die Schwärze von Berekhs Grab gähnte. Warum der Schädel herausgekullert war, konnte sie nur erahnen, doch die Spuren der Zerstörung waren ihrer Meinung nach menschlichen Ursprungs. Ebenso wie die tiefen Furchen, die Teile der in den Stein gravierten Inschrift unleserlich machten.
Da diese allerdings in Klaavu verfasst war, konnte Daena sie ohnehin nicht entziffern. Aber diesmal hatte sie einen Experten zur Hand.
Mitleidlos zog sie den protestierenden Berekh aus ihrem Beutel und richtete seine Augenhöhlen auf die Steinplatte. Immerhin nahm sie genug Rücksicht, um ihm den Blick auf die anderen Grabstellen zu verwehren, in denen vermutlich seine Familie bestattet worden war.
„Lies, was steht da?“
„Bist du jetzt völlig verrückt geworden? Kennst du keinen Anstand?“
„Den hast du mir abgewöhnt. Also, was steht da?“
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht, du neugieriges Gör“, knurrte der Schädel. Daena schüttelte ihn, dass seine Zähne klapperten, bis er schließlich kapitulieren musste.
„Ist ja gut, ich lese es! Undankbares Weibstück. Da steht: Bredanekh In‘Jaat, Magier des Laon, Held und Dämon. Betrauert vor allem von Raaxus … Pah, das kann ich mir denken, dieser Stümper! Also betrauert von Raaxus und den Völkern von Yarun.“
„Scheint ja ein eindrucksvolles Leben gewesen zu sein. Was meinst du, wer die Inschrift beschädigt hat?“
„Woher soll ich das denn wissen? Ich war tot, falls du das nicht mitbekommen hast.“
„Sehr lustig. Und wer ist Raaxus?“
„Ein Versager, dem ich damals einen Auftrag erteilt habe. Leider muss ich sagen, das hat er gründlich in den Sand gesetzt. Das hat man davon, wenn man jemanden anheuert, dessen gesamte Erfahrung auf Krötenexperimenten beruht. Nekromanten waren damals eben verdammt schwer zu finden.“
„Warte mal“, unterbrach Daena den wütenden Redefluss des Schädels, „du hast einen Nekromanten angeheuert? Wofür denn bitte in aller Welt?“
Irgendwie schaffte es Berekh trotz mangelnder Muskeln und Augen, ihr einen geringschätzigen Blick zuzuwerfen.
„Sicherlich nicht dafür, dass ich mich als lebender Schädel durch die Gegend tragen lasse. Können wir jetzt endlich von hier verschwinden?“
Seufzend steckte Daena ihn zurück in ihre Tasche. Sie hatte noch immer keine Ahnung, was sie eigentlich hierher gezogen hatte, aber zumindest das Gefühl, ein wenig näher an den Gedanken gekommen zu sein, der in ihrem Unterbewusstsein nagte.
***
Sie waren bereits wieder zwei Tage unterwegs gewesen – diesmal Richtung Südosten, zu dem Küstenland Saris hin – als es ihr endlich gelang, den Gedanken zu fassen, ins Licht des Bewusstseins zu zerren und weiterzuspinnen. Eine Weile stocherte sie noch in der Glut ihres Lagerfeuers herum, bis sie das Problem in seiner Gesamtheit erfassen konnte.
„Berekh?“, flüsterte sie in die Nacht hinein. Zu flüstern war natürlich unsinnig, Räuber würden eher durch ihr Feuer als durch ihr Gerede angelockt werden und das vorhandene Getier hatte andere Mittel, sie zu finden. Aber irgendwann im Laufe der Jahre, die sie wandernd oder gefangen verbracht hatte, war sie wohl paranoid geworden. Damit hatte sie sich abgefunden, es war sicherlich kein größeres Übel, als unter Höhenangst oder Heuschnupfen zu leiden.
„Berekh, bist du wach?“ Da seine Augenhöhlen leer waren, war auch diese Frage überflüssig. Daena legte bloß Wert auf ein gewisses Grundmaß an Höflichkeit. Als wie erwartet keine Antwort kam, verpasste sie ihm einen Tritt, der den Schädel ein gutes Stück über den Boden rollen ließ. Mit einem Mal flammten seine Augen in grellem Violett auf und Daena wandte sich zufrieden wieder ihrem Feuer zu.
„Was ist? Ein Angriff?“ Berekh kämpfte sich in eine aufrechte Position, sah sich missmutig um und fuhr übellaunig fort: „Warum zum Geier weckst du mich?“
„Du schnarchst.“
„Pah!“
„Gut, dann ich muss dich einfach etwas fragen. Der Totenbeschwörer, der dich so beklagt hat … Er hätte dich wieder zum Leben erwecken sollen, nicht wahr?“
„Grandios, deine Kombinationsgabe. Kann ich jetzt weiterschlafen?“ Damit wandte er sich
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