Herz im Spiel
verschiedene ihrer Eigenheiten, die Marianne und Nedra ärgerten. Insbesondere hatte Marianne sich über Sylvia Prince ausgelassen und darüber, wie sie immer und ewig von ihrem Vater, dem Kapitän, erzählte, wohin er reiste und was er ihr mitbringen würde, wenn er das nächste Mal seinen Heimathafen anlief. Marianne hatte auch geschrieben, Kingsbrook sei so bezaubernd wie immer.
Eilig überflog sie die Zeilen und seufzte erleichtert, als sie feststellte, dass sie zum Glück Mr Desmond überhaupt nicht erwähnt hatte. Sie lächelte in sich hinein, faltete das Papier wieder zusammen und steckte es in ihr Mieder. Jetzt würde sie sich nicht mehr die Mühe machen, den Brief abzuschicken. In zwei Tagen sah sie Nedra ja wieder, und dann konnte sie ihr alles persönlich erzählen.
Marianne liebte zwar Kingsbrook und hatte großes Vergnügen an Mr Desmonds Gesellschaft gefunden, aber sie freute sich auch darauf, an die Akademie zurückzukehren. Außer nach Nedra sehnte sie sich danach, Grace, Elinor und Beverly und die anderen Schülerinnen der Akademie wiederzusehen, obwohl die Mädchen, die sich mit Judith Eastman und Sylvia zusammengetan hatten, immer ein bisschen distanziert waren. Dennoch hatte sie nichts gegen sie und war einigermaßen verblüfft und enttäuscht, als Mrs Avery am zweiten Tag nach ihrem Eintreffen verkündete, Miss Prince werde nicht an die Farnham-Akademie zurückkehren.
„Was?“, rief Judith entsetzt.
Die Nachricht schien die arme Judith geradezu mit Panik zu erfüllen. Ganz offenkundig hatte ihre Freundin sie nie über ihr Vorhaben, nicht an die Akademie zurückzukehren, informiert. Marianne hielt es für einen eigenartigen Zufall, dass sie Sylvia Prince in dem Brief, den sie Nedra zu schicken vergessen hatte, erwähnt hatte. Und ihr schoss durch den Kopf, dass sie diesen Brief in einem Buch von Mr Desmond gefunden hatte, von dem sie sich nicht erinnern konnte, es jemals aufgeschlagen zu haben.
„Ich nehme an, Sie haben etwas für mich.“
Es war Mr Desmond, der diese Feststellung traf. Er saß am Schreibtisch eines Büros, das zwei interessanten Gentlemen gehörte. Das Schild an der Tür bezeichnete es als die Kanzlei von „Cranston und Dweeve, Privatdetektive“.
Wer nicht bemerkte, dass zwei Namen auf der Tür standen, hätte Mr Dweeve wahrscheinlich völlig übersehen. Der dynamische Mr Cranston, der vornübergebeugt direkt gegenüber von Mr Desmond saß, beherrschte das Büro. Sein kurz geschorenes Haar ließ ihn aggressiv wirken, sein Gesicht war gerötet und seine Stimme laut. Man hätte erwartet, dass jemand von vornehmerem und zurückhaltenderem Wesen die diskreten Ermittlungen durchführte, von denen auf dem Schild ebenfalls die Rede war. Jemand wie Mr Dweeve.
Dweeve saß etwas entfernt vom Schreibtisch neben seinem hochgewachseneren Kollegen. Er war klein, blass und hatte ausdruckslose Augen und eine penible Art, die den Eindruck vermittelte, er sei völlig unbedeutend. Mr Dweeve konnte überall hingehen, ohne gesehen zu werden, jedem Gespräch zuhören, ohne dass man ihn bemerkte, und jede Frage stellen, ohne dass sein Gegenüber ihn richtig wahrnahm.
Desmond hatte Mr Cranston und Mr Dweeve wegen eines Briefes aufgesucht, den sein Anwalt, wie Mr Bradley ihm erklärte, „von einem gewissen Mr H. Carstairs“, erhalten hatte. Darin hatte Carstairs Einspruch gegen die Übertragung der Vormundschaft über Miss Marianne Trenton aus seiner „juristisch sanktionierten“ Obhut erhoben.
Mr Bradley war noch einmal sorgfältig die Papiere durchgegangen, die er aufgesetzt hatte und die Miss Trenton unter Desmonds Vormundschaft stellten. Er bestätigte ihm, dass sie völlig legal waren, gab aber zu, dass sie, wie Carstairs in seinem Schreiben angedeutet hatte, vielleicht nicht auf Dauer verbindlich waren. Falls Mr Carstairs zum Beispiel blutsverwandt mit dem Mädchen war, konnte er dennoch die Vormundschaft beanspruchen, bis das Mädchen entweder einundzwanzig Jahre alt war oder sich verehelichte.
Da Mr Bradley wusste, dass sein Klient das Mädchen nur selten sah, keinen persönlichen Briefwechsel mit ihm führte und dass seine Vormundschaft ihm bisher nichts als Kosten und Mühen verursacht hatte, hätte der Anwalt sich vielleicht fragen können, warum Mr Desmond soentschlossen war, sie in seiner Obhut zu behalten und Mr Carstairs zu entziehen. Aber der Anwalt kannte auch nicht den anderen Brief, den Desmond erhalten hatte.
Jener Brief von Carstairs war vor einigen Monaten
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