Herz in Gefahr? (German Edition)
dunkelhaarigen Mann, den sie in der Ferne sah, James zu erkennen. Dabei hatte sie ihn tatsächlich zehn lange Jahre nicht gesehen. Und jetzt musste das Schicksal sie ausgerechnet fast mit ihm zusammenprallen lassen, während sie nach einem anstrengenden Arbeitstag vermutlich genauso alt aussah, wie sie inzwischen tatsächlich war! Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, nach dem Mittagessen die Lippen neu zu schminken. Verbittert lächelte sie vor sich hin. Es bedurfte bedeutend mehr, die Unstimmigkeiten mit James auszubügeln. Wahrscheinlich hatte er inzwischen Frau und Kinder. Diese Vorstellung versetzte ihr einen heftigen Stich. Dabei war sie so sicher gewesen, über ihn hinweg zu sein. Was er nach all den Jahren wohl hier wollte? Ihr Handy klingelte, als sie die steile, kurvige Auffahrt hinauffuhr. Der Anruf ihres Vaters wurde auf die Mailbox geleitet. Nach der aufwühlenden Begegnung mit James musste sie sich erst einmal zu Hause in Ruhe sammeln, bevor sie den Abend in Gesellschaft überstehen konnte.
Nach dem Abschluss als Wirtschaftsprüferin hatte Harriet eine Stelle bei einem ortsansässigen Unternehmen angenommen und ein verlockendes Jobangebot aus London abgelehnt. Dann überraschte sie ihre Familie mit der Ankündigung, ganz ins Pförtnerhaus des elterlichen Landsitzes River House zu ziehen.
„Wieso das denn?“, hatte ihre älteste Schwester Julia verblüfft gefragt. „Das ist doch viel zu klein.“
Weil sie dort völlig für sich wohnen konnte und ihre Privatsphäre geschützt war, denn das Häuschen lag etwas entfernt vom Herrenhaus. Jedoch nah genug, ein wachsames Auge darauf zu haben. „Ich finde es gemütlich“, erklärte Harriet. „Außerdem habe ich dort immer gelernt. Es ist doch wohl verständlich, dass ich in meinem Alter auch meine eigenen vier Wände haben möchte.“
Aubrey Wilde hatte sofort sein Veto gegen diesen Plan eingelegt. „Mach dich nicht lächerlich, Harriet! Warum willst du denn ganz für dich sein?“
Weil es wesentlich angenehmer wäre, als allein mit ihrem Vater im Herrenhaus zu wohnen. Die smarte Julia war Chefredakteurin einer Modezeitschrift in London und ließ sich nur selten auf dem Landsitz blicken. Die hübschere, aber nicht annähernd so intelligente Sophie war mit Mann und Kind und gesellschaftlichen Verpflichtungen in Pennington so ausgelastet, dass sie selten Zeit fand, nach River House zurückzukehren.
„Wenn dir das nicht passt, Vater, kann ich mir auch eine Wohnung in der Stadt nehmen“, hatte Harriet ihm ungerührt zu verstehen gegeben. Da seine Tochter sich immer streng an die Regeln hielt, wenn man mal von einem Vorfall aus Teenagertagen absah, an den er nicht mehr erinnert werden wollte, war Aubrey Wilde schließlich widerstrebend auf ihren Wunsch eingegangen.
Es würde ungleich schwerer werden, ihm heute Abend sein Einverständnis abzuringen. Zur moralischen Unterstützung zog Harriet ihr Lieblingskleid an und bürstete ihr langes Haar, das sie offen tragen wollte. Tagsüber steckte sie es stets straff auf. Nur sie hatte die üppigen Locken ihrer Mutter geerbt. Die stets neidische Sophie musste zur Haarverlängerung greifen und Stunden beim Friseur verbringen und erreichte trotzdem nicht annähernd die gleiche Haarpracht. Julia ließ sich regelmäßig eine elegante Kurzhaarfrisur schneiden, die wahrscheinlich so teuer war, wie sie aussah.
Harriet legte noch ein leichtes Make-up auf, schlüpfte in ihre höchsten High Heels und fühlte sich so gewappnet für den Gang in die Höhle des Löwen.
Als Harriet das geliebte alte Haus durch den Hintereingang betrat, umwehte sie in der riesigen, jedoch verlassenen Küche sofort ein appetitanregender Duft. Aus dem Salon drangen Stimmen. Offensichtlich unterhielten Julia und Sophie sich bei einem Aperitif angeregt mit ihrem Vater. An das Abendessen verschwendeten sie keinen Gedanken. Ihre Schwestern erwarteten, dass die Mahlzeiten ohne ihr Dazutun bereitet und aufgetragen wurden.
Wieder einmal dankte Harriet im Stillen der Perle, die River House so vorbildlich in Schuss hielt. Margaret Rogers kam jeden Wochentag für drei Stunden ins Herrenhaus, sorgte für Ordnung und Sauberkeit, bereitete Aubrey Wilde ein leicht bekömmliches Mittagessen, sofern er nicht auswärts aß, und füllte die Tiefkühltruhe mit schmackhaftem Abendessen, das er sich in der Mikrowelle aufwärmen konnte. Seit sie ihm vor einiger Zeit gezeigt hatte, wie das Gerät bedient wurde, brüstete er sich oft damit, wie gut er
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