Herz in Not
Sie damals nicht gesehen ... Sie waren wohl im Ausland ... der Krieg ...“ Hilflos biss sie sich auf die Unterlippe.
Fasziniert starrte David auf ihre weichen vollen Lippen. Ein fettes Hausmütterchen? schoss es ihm durch den Kopf. Sie war genau so, wie er sie in Erinnerung hatte - und doch ganz anders. Noch hübscher als damals war sie. Ihr Gesicht hatte die jugendlichen Rundungen verloren, die Wangenknochen traten elegant hervor, ihr Teint besaß die Farbe von Elfenbein, die dunklen Wimpern erschienen ihm dichter, die grauen Augen fast violett, das Haar glänzte tiefschwarz. Die Trauer, die sie mit gespielter Freundlichkeit zu verbergen suchte, brachte ihn fast dazu, sie tröstend an sich zu ziehen, so wie er es damals oft getan hatte ...
David wandte den Blick ab. Je schneller ich hier herauskomme, desto besser, dachte er. Einen Narren schalt er sich insgeheim. Weshalb war er überhaupt hergekommen? Eine simple Beileidskarte wäre ausreichend gewesen. Ein Glas Glühwein und dann nichts wie weg!
„Lord Courtenay?“ erkundigte sich hinter ihnen unsicher eine männliche Stimme.
Fast erleichtert drehten Victoria und David sich um. Sir Peter Grayson, Lauras Mann, stand fröstelnd an der eichenen Eingangstür und schüttelte Schneeflocken von Mantel und Hut.
„Es schneit...“, sagte Victoria leise.
„Habe ich mich doch nicht getäuscht!“ Offensichtlich erfreut ging Sir Peter auf David Hardinge zu.
„Peter! Schön, Sie zu sehen!“ Lächelnd ergriff David die ausgestreckte Hand. Das letzte Mal hatte man sich in einem Privatsalon einer charmanten Witwe getroffen. Der Abend, der mit Tanz und Kartenspiel begonnen hatte, war wie so oft in einer feuchtfröhlichen Orgie geendet. Es fiel David nicht leicht, die Erinnerung an den amüsanten Auftritt des nackten, nur mit einer Krawatte bekleideten jungen Draufgängers zu verdrängen.
Sir Peter errötete und hüstelte verlegen - auch er dachte wohl urplötzlich an dieses Ereignis. „Hast du Laura gesehen, Vicky? Ich muss Sie unbedingt meiner Frau vorstellen, Lord Courtenay“, drängte er. „Es muss schon über ein Jahr her sein, dass wir uns das letzte Mal getroffen haben. In der letzten Zeit komme ich so selten nach London. Im Oktober habe ich nämlich geheiratet... und bin unwahrscheinlich glücklich.“
„Natürlich ...“, versuchte David sein Gegenüber mit einem leichten Nicken zu beruhigen.
„Ach, da ist sie ja... “, rief Sir Peter halb erfreut und halb erschrocken, als er Lauras schlanke, schwarz gekleidete Gestalt aus dem Salon in die Halle treten sah.
Eine willkommene Gelegenheit für Victoria, sich zu entfernen, Zeit zu gewinnen, sich zu sammeln. „Kümmert ihr euch bitte um Lord Courtenay? Ich muss inzwischen nach Papa sehen“, bat sie ihre Freunde.
„Draußen ist es eisig, Papa. Bald wird es wieder schneien“, erklärte sie kurz darauf ihrem Vater. Sie legte ihre Hand an seine bleiche Wange. „Fühlst du, wie kalt mir noch immer ist? David hätte bestimmt nicht gewollt, dass du bei diesem Wetter an seinem Grab stehst.“
Der hagere alte Mann zerrte unwillig an der Wolldecke, die seine Tochter ihm gerade liebevoll über die Beine gelegt hatte. „Gibt es keinen Wein?“ quengelte der Greis verdrießlich.
Victoria lächelte nachsichtig und dachte, dass ihr geistig verwirrter Vater manchmal durchaus keine Schwierigkeiten hatte, sich verständlich zu machen. „Ich hole dir etwas Portwein“, versprach sie und nahm die Brille, die er seitlich neben sich auf den Sitz gelegt hatte.
Plötzlich beugte der Greis sich interessiert vor. „Wer ist das?“ knurrte er böse. Victoria drehte sich langsam um. Sie wusste sofort, von wem ihr Vater sprach.
David Hardinge stand zusammen mit Laura, Sir Peter und einigen Nachbarn, die sich neugierig erkundigten, in welcher Beziehung dieser attraktive, charmante Fremde zu dem Verstorbenen stand. Seine Manieren und sein Äußeres waren tadellos. Und es gab keinen Zweifel, dass
David nun sagenhaft reich war. Er stand wie so oft im Mittelpunkt des Interesses, aber während er sich höflich mit den anderen Gästen unterhielt, begannen seine Gedanken zu wandern. Nachdenklich hob er das Glühweinglas, trank und beobachtete dabei Victoria und ihren Vater.
„Ich kenne diesen Teufel ...“, sagte Charles Lorrimer so schrill, dass einige in der Nähe stehende Gäste Victoria mitleidig zulächelten.
„Pssst... Papa!“ versuchte Victoria ihn zu beruhigen. Als sie sich rot vor Verlegenheit umdrehte, bekam sie
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