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Herz und Fuß

Herz und Fuß

Titel: Herz und Fuß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Bax
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beugte sich über mich und unterstrich die einzelnen Worte langsam mit dem Zeigefinger, während sie laut und dramatisch vorlas. »Wahnsinniger Mörder in Oberhausen? Wo versteckt er sein zerstückeltes Opfer?«
     
    »Und du vermutest, das Versteck könnte in meinem Schlafzimmer sein?« Ich überflog den Rest des »Artikels«, der aus einer wirren Sammlung von Vermutungen, apokalyptischen Prophezeiungen und zwei oder drei Fakten bestand. Man merkte jeder entsetzten Zeile die Freude über das plötzliche Ende des Sommerlochs an. Irgendwie war es der Polizei aber wohl gelungen, die Rose dem Blick der Öffentlichkeit zu entziehen, denn sie wurde mit keinem Wort erwähnt.
     
    »Von der Rose scheinen sie nichts zu wissen«, sagte meine Mutter, deren lange graue Haare ausnahmsweise zu einem einzigen ordentlichen Zopf geflochten waren. Ich betrachtete die Frau, die erst spät im Leben an Fortpflanzung gedacht hatte, und die ich deshalb als junge Frau nur von Bildern kannte. Und ich fand, sie sah an diesem Morgen deutlich jünger aus als ich. Was vielleicht an ihrem Umgang lag.
     
    »Ich dachte Duislexic macht im Netz nur noch legale Sachen?«
     
    »Ich habe ihn gebeten, ein bisschen nachzuschauen. Immerhin geht es um meine Tochter.« Sie schaute unschuldig. Ich ließ mich von diesem Ich-bin-eine-alte-Frau-in-einer-neuen-Welt-Blick nicht täuschen.
     
    Man muss über meine Mutter ein paar Sachen wissen. Das Auffälligste an ihr war für Außenstehende wohl die Tatsache, dass sie das Haus nur ungern verließ. Seit mein Vater vor fünf Jahren, genau 912 Stunden, nachdem er seinen Ruhestand um zwei Jahre verspätet angetreten hatte, bei einem nicht selbst verschuldeten Autounfall ums Leben gekommen war, beschränkte sich ihr physischer Wirkungskreis dramatisch. Sie hatte bei dem Unfall neben ihm auf dem Beifahrersitz gesessen und war äußerlich vollkommen unverletzt aus dem Autowrack ausgestiegen. Was allerdings in ihrem Inneren vorging, blieb ihr Geheimnis. Als sie nach einigen Wochen aus der Kur zurückkehrte, ging sie zwar noch unsere Straße hinauf zum Einkaufen oder hinab zum Arzt und zum Gemeindehaus, aber nie mehr weiter als 912 Schritte. Sie vermaß im ersten Jahr nach dem Unfall die Welt mit gesenktem Kopf, Schritt für Schritt, und alles, was außerhalb ihrer selbst erschrittenen Grenze lag, wurde für sie unerreichbar. Wieso ausgerechnet die Zeiteinheit seines kurzen Ruhestandes ihren Radius bestimmte, behielt sie für sich und ich hütete mich davor, es anzusprechen. In ihrer Küche hing eine große Tabelle, die die Schrittentfernungen zu wichtigen und unwichtigen Punkten innerhalb unserer Stadt angab. Die erreichbaren Punkte waren grün, die unerreichbaren rot eingezeichnet. Ihr vorzuschlagen, einen roten Punkt zu besuchen, löste bei ihr die gleiche Reaktion aus, die ein Mensch der Frühgeschichte gezeigt hätte, hätte man ihm vorgeschlagen, seinen Einbaum über den Rand der flachen Erde hinauszupaddeln. Die beiden Psychologen, die mein Bruder anschleppte, bescheinigten ihr eine gesunde Psyche sowie den beginnenden Wahnsinn und meine Mutter freute sich über beide Gutachten. Den weitaus größten Teil ihrer Zeit verbrachte sie seit dem Unfall in unserem Haus, in dem sie das Erdgeschoss bewohnte, oder im Garten. Sie fuhr nie wieder Auto, Bus, Zug oder auch nur Fahrrad. Und sie ließ sich die Haare nicht mehr schneiden. Stattdessen flocht sie ihr stetig wachsendes Haar zu zwei ordentlichen Zöpfen, die ihr das Aussehen der späten Pippi Langstrumpf verliehen. Nur wenn mein Bruder sich ankündigte, löste sie die Zöpfe, ließ das graue Haar wild um den Kopf wallen und blickte aus gekonnt verwirrten Augen in die Welt.
     
    Was den meisten Menschen nicht auffiel, aber eigentlich viel erstaunlicher war, war die Tatsache, dass sie trotzdem Angst einflößend gut über die Welt hinter dem 912. Schritt Bescheid wusste. Der Grund dafür war ein streunender, junger Legastheniker, dessen Bekanntschaft sie kurz nach dem Unfall bei der freiwilligen Hausaufgabenbetreuung der Gemeinde (532 Schritte) gemacht hatte. Duislexic17, wie er sich im Netz nannte, konnte das Wort »programmieren« zwar weder flüssig lesen noch richtig schreiben, aber er konnte es mit digitalem Leben füllen. Meine Mutter brauchte jemanden, den sie retten konnte, Duislexic brauchte Halt. Wie zwei Einbeinige klammerten sich die beiden aneinander und begannen zu rennen. Er wurde mit den Jahren zum halbwegs legalen und sehr erfolgreichen Programmierer

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