Herz und Fuß
Tat sucht. Viele fragen sich, ob das nur der Anfang war und ob das jetzt der Sommer eines Serienmörders wird. Ich frage mich, warum Heiner heute Morgen in aller Frühe mit dieser Zeitung in der Hand vor der Tür stand und mit dir sprechen wollte. Ich habe ihm gesagt, dass du eine Frau mitgebracht hast, gestern Abend, und dass ich die halbe Nacht nicht schlafen konnte, weil ihr beim Sex so laut wart. Das hat ihn verscheucht, aber er hat angedroht, wiederzukommen. Neugier ist eine interessante Emotion.«
»Wo sollte ich denn gestern Abend noch eine Frau kennengelernt haben?« Ich sah ErzEngel strafend und ein klein wenig amüsiert an.
»Das hat er mich nicht gefragt. Wenn er mich gefragt hätte, hätte ich ihm von meiner Vermutung erzählt, dass es sich um die ermittelnde Kommissarin handelt. Gut aussehende Frau übrigens. Er fürchtet ja schon länger, dass ihr Lesben den Staat unterwandert.« Der unschuldige Blick auf ihrem Gesicht wurde von einem schelmischen Blinken in ihren Augen überstrahlt.
Schöne Kommissarin hin, unterwanderte Exekutive her, das war wirklich eine interessante Neuigkeit. Es gab also etwas, das meinen älteren Bruder auf die schwesterliche Türschwelle trieb. Normalerweise wich er allen Informationen über mich und mein lästerliches Treiben leicht angewidert aus. Seine lesbische Schwester fand einen einzigen gefrorenen Fuß und schon suchte er das geschwisterliche Gespräch. Wie rührend.
»Wahrscheinlich hat Stracciatella ihn geschickt, damit sie beim Tennis was zu erzählen hat. War die Zeitung noch kalt?«
Wir grinsten uns an. Stracciatella war die Frau meines Bruders und hieß eigentlich Lena-Stella. Wir hatten sie umgetauft, weil weder meine Mutter noch ich ganz sicher waren, dass sie nicht zum Teil Gletscher war und ihre Seele kalte Schollen kalbte.
Obwohl sie schon eine gefühlte Zahnwurzelbehandlung ohne Betäubung mit Heiner verheiratet war, kamen wir ihr auf Grund der unheimlichen Kälte, die von ihr ausging, nicht nah genug, um es genau zu überprüfen. Für meinen Bruder, dem unsere solide, proletarische Herkunft und seine etwas zu alten Eltern immer wie zwei hartnäckige Eiflecke auf seiner makellosen Finanzdienstleisteruniform erschienen waren, war sie die Erfüllung aller Träume gewesen. Ihr bürgerliches Elternhaus war freistehend, mediterran eingerichtet und abbezahlt, ihre Eltern waren ewig jugendliche, weit gereiste Pädagogen, die ihren Alkoholismus Önophilie nannten und bevorzugt neben einem Schälchen gefüllter Oliven auf toskanischen Terrassen auslebten. Nachdem Stracciatella ihn nach gründlicher Prüfung seines Einkommens erhört hatte, hatte Heiner sie eine Weile vor sich hergetragen wie der Priester die Monstranz bei der Fronleichnams-Prozession. Bedauerlicherweise hatte mein großer Bruder in seinem Glück über diesen Aufstieg in die nächsthöhere Konsumkaste damals übersehen, dass seine Auserwählte die sozialen Fähigkeiten einer Muräne hatte und auch deren Körpertemperatur. Nach der feierlichen Eheschließung hatten sie in schneller Folge zwei blasse, kühle Söhne bekommen, deren nüchterne Namen vermuten ließen, dass ihre Eltern sie nur benannt hatten, weil es ihnen nicht erlaubt gewesen war, sie zu nummerieren. Kurt und Frank waren das, was entstand, wenn man einen hohlen Eisblock mit einem geltungssüchtigen Langweiler kreuzte. Sie waren blutleere, arrogante, kleine Besserwisser, die schon jetzt an zwei Modelleisenbahnen bauten, die sie später in den Kellern ihrer jeweiligen Doppelhaushälften mit ihren eigenen Söhnen betreiben würden. Wenn man ihnen zusah, wie sie mit ihren blassen Fingern ordentlich die winzigen Weichen stellten, die kleinen Menschen vor den kleinen Häusern postierten und die Züge in ihren ewigen Kreisen fahren ließen, war das wie ein Blick in ihre Gehirne. Ich schloss nicht aus, dass einer von beiden das Zeug zum gestörtesten Serienmörder seiner Generation hatte, aber man durfte da wohl auch nicht zu viel erwarten.
Heiner selber lief ständig leicht erkältet durch sein Leben und fragte sich hoffentlich heimlich, warum so viel gelebte Bürgerlichkeit nicht glücklicher machte.
»Möchtest du weiterschlafen, Otter?«
Meine Mutter nannte mich nur in ganz vertrauten Momenten bei diesem Kindheitsnamen und sie war auch die Einzige, die Charlotte auf diese Art zerlegen durfte. Sie stellte ein paar Gegenstände auf meiner Fensterbank schräg, legte ihren langen Zopf einmal nach vorne,
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