Herzen aus Asche
echte Asche, um meinen Bruder für immer loszuwerden. Und was muss ich feststellen?« Er lockerte den Griff um Leifs Brustkorb und drehte ihn gewaltsam an den Schultern herum, sodass er ihm ins Gesicht sehen konnte. »Du hast deinen Fokus verlegt, du Idiot! Du bist überhaupt nicht mehr an dieses Haus gebunden.« Sein Kopf zuckte herum, mit kalten Augen fixierte er Amelie. »Du hast dich an eine Sterbliche gebunden, deine Existenz als Wiedergänger in die Hände des Mädchens gelegt. Sie ist dein neuer Anker im Diesseits. Was tust du, wenn sie nach ihrem Tod keinen Platz im Jenseits erhält, nicht zu einer überdauernden Seele wird? Was wird dann aus dir?« Gehässigkeit sprach aus ihm heraus. Er zeigte mit ausgestrecktem Finger auf Amelie, die sich in diesem Moment einer Ohnmacht näher fühlte denn je.
»Ich muss sie töten, um dich loszuwerden!« Er sprang auf, im selben Moment schrie Leif, der nicht mehr ganz so durchscheinend war wie zuvor, aus voller Kehle ihren Namen.
»Amelie! Deine letzte Chance! Das Messer!«
Sie sah, wie Loan unmittelbar vor ihr auftauchte und die wenigen Meter innerhalb eines Wimpernschlags zurücklegte. Mittlerweile war das untere Stockwerk von dichtem Qualm erfüllt, man konnte kaum von einer Wand zur anderen sehen. Die Treppe brannte. Die Wände brannten. Die Türen brannten.
Loan holte aus, hob eine Hand weit über den Kopf, als wollte er Amelie schlagen. Sie zweifelte nicht daran, dass er die Kraft besaß, ihr den Schädel mit nur einem Hieb vom Hals zu trennen. Es war zu spät. Sie hatte zu lange gezögert. Wie in Zeitlupe sah sie seinen Arm auf sich niederschnellen. Binnen einer Sekunde schien ihr Leben an ihr vorüber zu ziehen. Sie dachte an ihre Mutter, an ihre Freunde. Und als letztes - an Leif. So würde es also enden.
In dem Moment, als Loans große Faust ihren Kopf hätte erreichen müssen, hielt er so abrupt in der Bewegung inne, als hätte er gegen eine unsichtbare Mauer geschlagen. Er sank auf die Knie, ein Ausdruck von Entsetzen im Gesicht. Er griff sich an den Hals, als bekäme er keine Luft. Dann färbten sich seine Fingerspitzen grau, trockneten ein, zerfielen. Binnen weniger Sekunden bildeten sich Risse in seiner geisterhaften Gestalt, von den Händen ausgehend die Arme entlang, über die Brust zu den Beinen und seinen Hals hinauf. Einen Herzschlag später zerbröselte er - zu Asche. Nichts als ein grauer Haufen blieb von ihm übrig.
Geschockt starrte Amelie auf die Stelle, an der er verschwunden war. Was war geschehen? Wieder nur ein Trick? Dann fuhr sie herum, blickte über die Schulter hinweg nach hinten. Jarik lag dort auf dem Rücken, das lange Küchenmesser steckte in seiner Brust. Er sah um Jahre gealtert aus, sein Gesicht war fahl und eingefallen, tiefe Falten hatten sich darauf gebildet. Seine Augen waren aufgerissen und starrten zur Decke, in eine unbestimmte Ferne. Flammen züngelten an seiner Hose, doch sein lebloser Körper zuckte nicht einmal mehr, verfügte über keinerlei Reaktionen. Er war tot. Nur langsam verstand Amelie die Zusammenhänge. Jarik hatte sich selbst getötet, hatte sie damit gerettet, sich für sie geopfert.
Blut sickerte aus der Wunde zwischen Jariks Rippen, doch der Strom versiegt e allmählich, wurde schwächer. Wie viel Mut musste es ihn gekostet haben, ein Messer in den eigenen Brustkorb zu rammen? Das Entsetzten darüber schüttelte Amelie, ließ sie für den Moment sogar vergessen, dass sie sich in einem brennenden Haus befand.
»Amelie, mach, dass du hier verschwindest!« Leifs Worte holten sie in die Realität zurück. Sie riss den Kopf herum, konnte ihn im dichten Rauch jedoch nicht sehen. Sie versuchte aufzustehen, aber ihre Beine fühlten sich an, als seien keine Knochen mehr darin. Sie konnte nicht stehen. Auf allen Vieren kroch sie in die Richtung, in der sie die Haustür vermutete, aber die ringsum heiß lodernden Flammen ließen sie keine Wand erreichen. Sie war eingeschlossen.
Sie zwang sich aufzustehen, strauchelte zur Treppe, doch deren Stufen waren allesamt zu Asche zerfallen. Es gab keinen Weg hinauf ins obere Stockwerk.
Wo waren die Fenster? Amelie sah sich panisch um, konnte aber kaum eine Armlänge weit sehen. Sie warf sich zurück auf den Boden, in der Hoffnung, dass der Rauch und die Hitze dort erträglicher waren.
»Leif!« Sie schrie aus voller Kehle, aber der Qualm und das brüllende Feuer schluckten jeden Laut, den sie von sich gab.
Sie hustete, schnappte nach Luft, atmete immer flacher. Der
Weitere Kostenlose Bücher