Herzen aus Stein (German Edition)
vom Gelände in den dahinterliegenden Birkenwald. Dort hatte Noir ihr Motorrad versteckt, das sie jede Nacht auf ihren Streifzügen benutzte.
Vince stieß sich vom Dach ab, breitete seine Schwingen aus und segelte über die Klostermauer, um ihr wie ein Schatten zu folgen. So wie immer.
Kapitel 2 – London (wenige Tage in der Zukunft)
K
ara haderte mit sich. Ausgerechnet einer Hexe sollte sie die magische Sanduhr übergeben? Warum ausg e rechnet sie, Kara? Solche Tätigkeiten fielen schon lange nicht mehr in ihren Zuständigkeitsbereich. Kopfschüttelnd blickte sie auf das winzige Schmuckstück in ihrer Handfläche. Go l dener Sand funkelte in dem Glas. Das Artefakt war erst vor Kurzem in den Besitz der Engel geraten und der Hohe Rat der Erzengel hatte sofort beschlossen, was damit zu geschehen hatte.
Karas Aufgabe war es, andere glücklich zu machen, sie zu beschü t zen oder von langem Leid zu erlösen, doch hatte es eine Hexe übe r haupt verdient, von ihrem Leid erlöst zu werden? Der Hohe Rat hatte Kara mitgeteilt, dass dieser Frau ein bisschen Glück zustand, nach allem, was sie durchgemacht hatte und immer noch durc h machte.
Wer erlöste sie von ihrem Leid? Diesem immer stärker werdenden Wunsch nach …
Du liebe Güte, was hatte sie nur für Gedanken? Sie durfte als E n gel nicht infrage stellen, wer etwas verdient hatte oder nicht. Das entschieden allein die Mitglieder des Rates. Dass Kara ihre menschl i che Vergangenheit, an die sie sich nicht einmal erinnern konnte, sondern nur aus Raphaels Erzählungen kannte, noch nachhing, b e merkte sie erst jetzt. Eigene Bedürfnisse standen einem Engel auch nicht zu; zumindest nicht solche, die sich nicht mit den Grundsätzen des Rates vertrugen. Lust, Eitelkeit, freier Wille … all das war verb o ten. Es war ungerecht, in einem voll funktionsfähigen menschlichen Körper zu stecken. Er arbeitete weitgehend wie bei den Sterblichen, nur musste Kara weder essen noch schlafen. Wäre sie ein feinstoffl i ches Wesen wie manch andere Schutzengel, hätte sie sich nicht mit derartigen Schwächen herumplagen müssen. Als Wächterengel der Londoner Gargoyles war es hingegen vorteilhafter, eine richtige G e stalt zu besitzen. Ansonsten würden sie diese geflügelten Wesen auch nicht sehen können und eine Zusammenarbeit wäre schwerer.
Kara fragte sich immer noch, warum daher ausgerechnet sie j e mandem ein magisches Artefakt überbringen musste, wo es nicht zu ihren Aufgaben gehörte. Aber Kara hatte Raphael noch nie etwas ausschlagen können. Immerhin hatte er ihr viel beigebracht. Kara schmunzelte bei den Gedanken an ihre ersten Flugversuche.
So ein fester Körper hatte allerdings was. Seufzend schaute sie in das schmutzige Schaufenster eines leeren Ladens, der sich in einer schäbigen Seitenstraße befand, um ihr Spiegelbild zu betrachten. Soeben hatte sie ihre Flügel verschwinden lassen. Ohne ihre Schwi n gen sah sie anders aus. Kara fühlte sich dann erst recht nicht wie ein richtiger Engel. Bestimmte Sehnsüchte rückten in dieser Gestalt leider auch stärker in den Vordergrund. Sie vermied es, sich in die Augen zu sehen. Jedem Engel wohnte ein Leuchten inne, sein Seelenlicht, das man durch die Pupillen hindurch wahrnehmen kon n te. Je reiner die Seele war, desto heller der Glanz. Ihr Licht würde bestimmt nicht mehr als ein goldenes Glimmen sein. Sie wollte es gar nicht so genau wissen. Sie war eben nicht perfekt.
Kara drehte sich vor dem Fenster. Ihre Schwingen waren nicht e t wa unsichtbar – sie waren ganz und gar verschwunden. Kara könnte sie aber jederzeit erscheinen lassen. Jetzt musste sie einen Antiquit ä tenhändler hier in London aufsuchen, mit dem sich die Hexe in Kü r ze treffen wollte – wie ihr Raphael mitgeteilt hatte –, daher sollte Kara für Menschen sichtbar sein und sterblich aussehen, um einen vertrauenerweckenden Eindruck zu machen. Die Hexe war wohl etwas unberechenbar. Ganz toll.
Kara drehte sich erneut vor dem staubigen Fenster. Was für eine sündhafte Figur sie besaß. Große Brüste und kurvige Hüften. E i gentlich fand sie sich etwas mollig, aber es gefiel ihr, wenn sich Mä n ner wie Frauen nach ihr umdrehten, daher trug sie gern figurbetonte Sachen. Weil sie immer flugbereit sein musste, hatte sie nur ein bauchfreies und trägerloses Bustier an. Ihre Flügel, die an ihren Schulterblättern saßen, brauchten Platz. Dazu trug sie am liebsten Röhrenjeans und bequeme Sneakers. In der Hand hielt sie einen
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